„Das finde ich ja ganz toll, eure Bereitschaft in den Ferien zu einem Seminar zu kommen“, lobte die Referentin die zusammengewürfelte Gruppe im Shuttle-Bus vom S-Bahnhof zum Tagungshaus.
In diesem speziellen Fall hatte es Frau Life Science nicht viel Überwindung gekostet, sich innerhalb der Ferien freiwillig fortzubilden. Das Beste an dieser Fortbildung war nämlich das „Fort“ – zwei Tage und eine Übernachtung auf Kosten des Arbeitgebers (der es Frau Life Science definitiv schuldig war). Eine Auszeit, kinderfrei, auf Schwanenwerder. Am Wannsee. Im Wannsee drinne, quasi, weil Halbinsel. Mit Halbinseln hat sie’s ja, die Frau Life Science.
„Jetzt Elterngespräche noch diplomatischer führen“ hätte Frau Life Science als Seminarthema nicht gerade hinter dem Ofen vorgelockt, aber „Creative Writing“ – das war schon was.
Ein beliebter Trick unter Lehrerinnen ist ja, sich in den Dingen fortzubilden, die man schon kann. Die Veranstaltung„Stimme und Präsenz“ wird Frau Life Science in nächster Zeit eher nicht besuchen. Weil sie sie nötig hätte. Die Kollegin, die im Chor singt, war aber dort.
Da Frau Life Science in und nach ihrem späten Lehramts-Studium jedes verfügbare Schreibseminar morgens, mittags, abends oder über Nacht so treu besucht hat wie Oma Hilde ihre Bibelstunde, wusste sie, wo der Hase bei solchen Seminaren langlief. Sie hatte am Vortag keinerlei Einschlafprobleme, im Gegensatz zu ihrer liebenswerten ü60-Kollegin von der anderen Schule, die dann aber beim Seminar selbst zur Hochform auflief.
Frau Life Science nahm den Seminarablauf völlig gelassen hin, schrieb drauflos, sobald ein „Prompt“ gesetzt wurde, oder hielt entspannt inne, bis ihr irgendwas kam, mal war es hölzern, was da kam, mal war es gut, sie hatte Spaß und war so frei, das Getippte nach dem Kurs nicht einmal abzuspeichern. Man fotografiert auch keine Yoga-Übungen. Wozu?
Sie genoss auch gerade das Zuhören. Was die anderen zu erzählen hatten! Viel Berliner Zeitgeschichte war dabei, Erlebtes und Gelebtes, Erlittenes. Manch einer/m TeilnehmerIn versagte beim Vorlesen der eigenen Texte kurzzeitig die Stimme. Das war kein Ding. Man musste nichts erklären oder mehrstündige Therapiegespräche im Anschluss führen. Sich schon gar nicht entschuldigen. Das Leben in seiner Fülle war einfach da. Lachen und Weinen waren es wert zu Wort zu kommen.
Die Referentin, eine Frau voller Kanten und Widersprüche, eine Berlinerin wie sie im Buche stand, trieb die berechtigte Frage um, warum sich eigentlich alle – und gerade auch Frauen – sei es im Lehrerzimmer oder auf der Straße, immer so verdammt oberflächlich unterhielten. Ihr schwebte vor, besser nicht zu fragen „Wie geht‘s dir?” sondern mehr
What are you going trough?
„Womit musst du dich rumschlagen, was bewegt dich?“ Dieses What are you going trough war natürlich ein Buchtitel.
Am Abend sah man gemeinsam einen Film, mit literarischem Bezug, in dem die Protagonisten sich nicht entwickelten und nichts voranschritt, weil sich das jetzt schon länger so gehört. Frau Life Science kann da gut mitgehen. Bei ihr selber passiert auch immer nichts.
Was nach dem Seminar bleibt:
Wie leicht es ist, mit anderen zu schreiben. Und wie schnell es jeder Neuling lernen kann.
Nicht, um möglichst viel druckreife neue Literatur in die Welt zu bringen, sondern, um vielleicht weniger oberflächlich anderen zu begegnen. Und um sich selbst besser kennenzulernen. Und weil es einfach so viel Spaß macht.
Am liebsten würde Frau Life Science schon nächsten Montag fünf Freundinnen und irgendein Quotenmann auf ihre fleckige Couch zusammenrufen und bei einer x-beliebigen Schreibübung, die sich eine/r von ihnen aus den Fingern saugen würde, in ein paar Minuten klackerndes oder leise kratzendes Schreiben zu kommen und dann beim Vorlesen gemeinsam zu lachen, zu weinen, einen kribbelnden Schauer zu fühlen oder einfach nur lächelnd zu nicken.
Das wäre so schön. Aber dass sie das nicht tun wird, sondern wie immer ein Kind ins Bett bringt oder zwei und noch Wäsche faltet, oder am Handy daddelt, ist eh klar.
Man müsse sich ab sofort eine Schreibroutine schaffen, war der Tenor der Seninargruppe. Ein paar Minuten jeden Tag. Man muss einfach. Es sich vornehmen und dann machen. Man MUSS.
Man muss Zähne putzen und zur Krebsvorsorge gehen. Aber Schreiben muss keiner. Schreiben ist wie Wasser. Es findet seinen Weg.
Du hast ja deine regelmäßige Schreibroutine eh‘ gefunden, mit diesem
Blog. Und danke auch für diesen schönen Text!
Sylvia Schmieder
Autorin, Dozentin, Lektorin
https://sylvia-schmieder.de
Das Tagesgedicht auf YouTube:https://www.youtube.com/@dastagesgedicht-qb2dt
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