Als es noch kalt und weiß draußen war, bekam die Klasse 6c die Hausaufgabe, ein Wintergedicht zu verfassen. Es sollte ein Baum darin vorkommen. Keine weiteren Vorgaben.
Ein paar Tage hatten sie dafür Zeit. Fast alle Nachwuchs-Poeten wollten dann der nächsten Deutschstunde freiwillig vorlesen und hatten ihre lebendige Freude daran. Alles reimte sich, das ist den Kindern wichtig. Da kann ihre Lehrerin lange sagen, dass es das nicht muss. Was weiß schon eine Lehrerin?
Weil die Schüler-Gedichte so originell und so vielfältig waren, sollten alle ihr Werk in Schönschrift oder getippt abgeben, damit sie ausgestellt werden konnten.
Beim häuslichen Sichten der Texte fand Frau Life Science ein Werk von Joseph von Eichendorff, das die Schülerin auch auf zweifacher Nachfrage als ihr eigenes ausgab, sowie eines von Herr oder Frau Volksmund, das einer Schülerin offenbar so gut gefallen hatte, dass sie es abschrieb, anstatt ein eigenes zu verfassen. Den Baum habe sie allerdings selbst darunter gemalt, beteuerte die Schülerin auf Anfrage.
Eine andere Art Irritation verursachte ein dreistrophiger Beitrag, der mit seiner tadellosen Rechtschreibung, den sauberen Paar-Reimen und mit einer stromlinienförmigen Geschmeidigkeit auffiel, sich jedoch nicht googeln lies: Hier hatte offenbar ChatGPT die Verse geschmiedet.
Frau Life Science war fasziniert, schmiss die Poesiemaschine gleich selbst an, das hatte sie noch gar nie probiert, und es funktionierte. Das Wunderding spuckte noch weitere dreistrophige Baum-Winter Gedichte aus, die alle aus demselben Guss waren, genauso glatt, nicht falsch, aber auch nicht richtig richtig.
Gute Bearbeitungen sollten bei dieser Hausaufgabe ein Plus bekommen. Eichendorff und Volksmund waren raus. Was tun aber nun mit dem ChatGPT-Beitrag? Mehrmals zerriss Frau Life Science den Rückmeldezettel an den Schüler um ihn neu zu formulieren. Als Schülerleistung wäre es ein Plus wert, als ChatGPT-Ergebnis bräuchte sie erstmal ein Eingeständnis. Sowas ist heutzutage schwer zu kriegen.
Erst im Unterricht, bei Bekanntgabe der „Plusse“ hatte Frau Life Science die plötzliche Eingebung und sagte zu dem Kind:
„Du bekommst ein Plus für hervorragende Beherrschung von ChatGPT. Können wir uns darauf einigen?“
Als der Junge „ja“ sagte, Gelächter und erste Sprüche („Läuft bei dir!“) kamen, klatschte sie ihn ab. Sie hatte das Geständnis. Nun war der Weg frei fürs Eigentliche: Das gemeinsame Lernen an und mit dieser technischen Errungenschaft.
„Wie haben Sie das denn gemerkt???”
Für Sechstklässler mit zwölfjähriger Lebenserfahrung war es ein noch größeres Wunder, dass die Lehrerin die Autorenschaft treffsicher erkannte, als die Künstliche Intelligenz selbst. Einen kleinen Moment lang hatte Frau Life Science den Respekt der SchülerInnen.
„Ich kenne mich eben mit Gedichten sehr gut aus“, sagte Frau Life Science ganz und gar unbescheiden, und wenn man Sechstklässler und nicht Literaturwissenschaftler zum Maßstab nahm, stimmte das ja auch.
Dem Gedicht fehle es zudem, ergänzte Frau Life Science, an… Persönlichkeit. Am Faktor Mensch. Es habe keine Fehler. Aber es berühre nicht.
Dieser Unterricht hätte eine Sternstunde werden können.
Wurde es aber nicht. Die Diskussion wurde jäh unterbrochen, als ein anderes Kind bitterlich zu weinen begann, weil der Mitschüler ein Plus bekommen hatte durch diesen „Betrug“ und er selbst hatte sich so viel Mühe gemacht (und auch ein Plus bekommen).
Zack, Sternstunde kaputt. Taschentücher holen, über Noten diskutieren, Streit schlichten und Dynamik bis zum Gong.
Also wenn die Kids schon ChatGPT nutzen, dann sollten sie dem Ding auch verklickern ein paar Fehler unterzuschummeln, damit‘s nicht so auffällt 😉
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Auf jeden Fall wunderbar lehrreiche Schulstunden, für alle Beteiligten!
Glückwunsch an die Kinder und die Lehrerin. 🙂
Sylvia Schmieder
Autorin, Dozentin, Lektorin
https://sylvia-schmieder.de
Das Tagesgedicht auf YouTube:https://www.youtube.com/@dastagesgedicht-qb2dt
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