„Ihr habt noch Johannisbeeren?“, fragt die Jugendfreundin zu dem ihr als Gastgeschenk gereichten Körbchen, „scheint ne späte Sorte zu sein“. „Es sind einfach normale Johannisbeeren“, erklärt Frau Life Science, „die bisher nicht geerntet wurden“.
Diese Sorte Johannisbeeren ist auf dem Land eher selten, denn man lässt die Früchte nicht an den Sträuchern vertrocknen und seine Senioren nicht im Stich.
Johannisbeeren verschenkt man außerdem eher geliert, mit einem bunt gemusterten Tüchlein über dem Schraubglasdeckel und mit einem lieb beschrifteten Etikett.
Marmeladen und Gelees kochen die Leute hier so beiläufig als wären es Spaghetti fürs Mittagessen. Sogar der Senior hat damit angefangen. Als Frau Life Science zuletzt Marmelade gekocht hatte, war sie 21 und gelangweilt. Seither kein Bedürfnis und zum Glück wenig Zugang zu größeren Mengen Obst. „Karls Erdbeeren“ werden im Berlin ja immer einzeln verkauft und kosten 3,80 pro Beere. Fertige Marmelade nur 2,99€.
Einige Johannisbeeren hängen immer noch, als die erntefaule Familie Life gerade zum Dorffest marschiert, und eine Nachbarin trifft. „Wir saugen jetzt noch das Auto (Äudo)“, sagt sie, „weil wir Montag (Mändig) in den Urlaub fahren“.
Frau Life Science nickt verständnisvoll, als würde sie selbst auch immer das „Äudo“ saugen vor dem Urlaub. Beim Staubsaugen hilft der voll im Leben und im Beruf stehenden Frau übrigens ein Enkel, denn selbst beim Enkelkriegen lässt man hier am Ort nichts anbrennen.
Auf dem Dorffest wird auch ordentlich angepackt, die einen pusten in Posaunen und Trompeten, die anderen zapfen Getränke oder spülen das Geschirr. Die Kinder und Enkelkinder der Leute betreuen sich offenbar selbst. Familie Life Science isst und trinkt hauptsächlich und geht dann wieder.
Wenn gerade nicht Dorffest ist, lässt man‘s als Dorfbewohner in Haus und Garten laufen. Auf dem Grundstück unterhalb wird unmittelbar nach dem Dorffest lautstark gebaggert, am nächsten Tag auf dem zur Rechten. Dabei sitzen die Hausbesitzer so beiläufig auf diesen Baggern als wären es ihre Rasenmäher.
„Ich gehe schnell zum Friedhof“, teilt Frau Life Science der anderen Nachbarin über den Zaun mit. „Fast bisschen früh noch zum Gießen “, sagt diese mit kritischem Blick auf den Sonnenstand, denn man tut nicht nur viel hier, sondern das auch immer zur rechten Zeit. Für sie ist es gerade Zeit, ihre Tortenhaube abzuholen vom heutigen „Dorftreff“ am Nachmittag.
Gedenktag beim Schwiegerpapa am Grab. Familie Life Science stellt eine Grabkerze hin, besorgt am Vorabend um 23:30 Uhr im REWE. Die Schwägerin aber hat einen wunderschönen Kranz gemacht aus (eigenen) Hortensien. Die sehen auch getrocknet von der Sommerhitze noch gut aus.
Schachmatt.
Bei all der Betriebsamkeit, den hör- und sichtbaren Zeichen der Produktivität und der Fähigkeit rechtzeitig das Richtige zu tun, und nicht zu wenig davon, sehen Goldmaries Schwester und Ehemann sowie ihre späten Kinder schnell alt aus.
Darauf ne Hand voll Johannisbeeren. Die bereits vertrockneten einfach von der Rispe abstreifen.
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Dieser Beitrag ist Teil der Blogparade „Sommer“ von Sarah Zöllner: https://mutter-und-sohn.blog/2025/08/08/blogparade-sommer-frist-bis-31-08-2025/
Wer macht mit…?
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Die getrockneten Johannisbeeren kann man für unsägliche Summen an Großstadtbewohner und -bewohnerinnen (wie mich) verkaufen, die sie sich als Superfood ins morgendliche Porridge rühren. 😄 So schließt sich der Kreis wieder.
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Du bringst mich auf was!
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Deine Alltagsprosa hat immer wieder eine wunderbar beiläufige
psychologische Tiefe. Und ein bisschen Lebenshilfe leistet sie auch,
gerade so viel, wie man sich gerne gefallen lässt.
(Meinen Disclaimer bitte nicht mehr unter die Kommentare, das kommt so
dick mit Bild und so …)
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Na gut, also wenn du so vorlegst, mach‘ ich da auch mal mit. Schönen Sommer
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Dein Beitrag erinnert mich gerade an meine Kindheit:
aufgewachsen auf einem kleinen Dorf, wo jeder jeden kennt und man bei den Nachbarn klingeln kann, wenn man beim Einkauf was vergessen hat.
Das habe ich jetzt auch wieder.
Und das, obwohl ich in einer Stadt lebe – Luxus heutzutage
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