(366) Eingewöhnungsbedürftig – Oder: Das Berliner Modell

So ein deutscher Kindergarten ist schon ein Phänomen und die sogenannte Eingewöhnung des Kindes im Kindergarten ein Fulltime-Job. „Eingewöhnung nach dem Berliner Modell“, heißt das im Fachbegriff, und es wird in der Stadt, in der es erfunden wurde, genauso ernst genommen wie überall sonst. So eine umfassende Eingewöhnung ist gewöhnungsbedürftig, insbesondere nachdem man bereits „Drop and Go nach dem New Yorker Modell“ erfahren hat. Es kann nicht oft genug erwähnt werden.

Das Berliner Modell jedenfalls orientiert sich an der Bindungstheorie von John Bowlby  (Jahrgang 1907) und geht davon aus, das ein Kind drei Wochen Schutz- und Schonzeit benötigt, ehe es Vertrauen in die neue Umgebung fasst. Stimmt wahrscheinlich, und darum muss das Kind begleitet werden, von raten Sie mal wem, der lieben Frau Mutter. Es mag vereinzelt Väter geben, die ihren Jahresurlaub im Kindergarten verbringen, oder Väter, die als Selbstständige arbeiten und Liegengebliebenes nachts nacharbeiten können oder solche, die einfach Hausmann sind.

Aber auch als Hausmann oder – Frau hat man Termine und Verpflichtungen. Also hätte man. So wie Frau Life Science:

Die Telekom kommt zwischen 8:00-12:00 Uhr? – Geht nicht, Frau Life Science hat Eingewöhnung.

Ganz Steglitz schaut einem beim Wohnen zu und man bräuchte dringend mal Gardinen und Vorhänge? – Nichts zu machen, Frau Life Science hat Eingewöhnung.

Es sollte mal ein neuer Blogpost online gestellt werden, damit die tausende (!) Klicks, die ein freundschaftlicher Link neulich überraschend verursacht hat, künftig nicht ins Leere laufen? – Nix da! Frau Life Science hat Eingewöhnung.

Auf dem Bürgermat endlich ein zwölfminütiges Zeitfenster zum Anmelden einer Wohnung ergattert? Um 10:00 Uhr? Geht nicht. Frau Life Science hat Eingewöhnung.
(Zum Thema „Anmelden einer Wohnung auf dem Bürgeramt“ später irgendwann mehr).

Es ist ja nicht nur die viele Zeit, die man im Kindergarten verbringt, sondern vor allem auch die, die man es NICHT dort ist, weil man nur so ca. zwei Stunden bleibt. Den Rest des Tages muss man das Kind allein bespaßen in der fremden Stadt, die fast so eiswindig ist wie New York, und man kennt keinen. Schön ist das nicht! So muss das Kind halt dreimal mit zu Obi, zum Fahrradladen, zu Rewe. Und ohne Peppa Pig kriegt man sowieso keinen Tag rum, eine Stunde ist da schnell vorbei! Kann man aber immerhin als „Englisch Class“ verbuchen. So leicht wirft man seine Erziehungsideale über Bord.

Im Kindergarten erhält Frau Life Science sofort ein Bezugskind, ein Junge, der nicht ihr Sohn ist und so heißt wie viele in dieser Gruppe (Er ist die lebende Hitliste der Jungsnamem, der 1975er Stefan als 2015er Jahrgang). Dass Frau Life Science seine Bezugserzieherin ist, hat der Junge, den ein Hauch kalter Zigarettenrauch umgibt, selbst entschieden. Er will in einem fort, dass Frau Life Science mit dem kleinen Matchbox-Polizeiauto zur Unfallstelle fährt. Es sagt auch „Bitte“ (auf Anfrage), es ist ein drängendes, unnachgiebiges „Bitte“. Bald gibt Frau Life Science das Bezugskind wieder ab, indem sie ihm ausweicht. So viel Zuwendung wie der fremde Junge heute will, kann sie ihm nicht geben.

Überhaupt muss sie aufpassen, dass sie in ihrer Rolle bleibt. Eingewöhnungsmutter, nicht Mitarbeiterin! Im Turnraum behauptet ein Mädchen, jüngere Kinder dürften hier nicht spielen, wenn kein Erwachsener dabei sei und zeigt auf den Forschernachwuchs. „Ich hin doch hier“, bemerkt Frau Life Science. „Aber ein Erzieher muss es sein“, sagt das Mädchen. „Ich bin Erzieherin“, denkt Frau Life Science, „willst du meine Urkunde sehen, du kleine Göre? Ich maile sie dir!“
Frau Life Science ist vieles, unter anderem Erzieherin mit staatlicher Anerkennung (und kaum Kindergartenerfahrung). Aber nicht nur, weil sie Erzieherin ist, hilft sie mal eben den Kindern beim Matschhosenanziehen. Es macht sogar Spaß, zumindest, wenn man es nicht jeden Tag zwanzigmal macht. Keine Ahnung, ob sich das gehört, dass man hier so pseudomäßig mitarbeitet, aber man kann doch wirklich nicht stundenlang unproduktiv rumsitzen. Das ist nichts für Frau Life Science!

Das verzwickte am Berliner Modell ist übrigens: geht es mit der Ablösung schneller, dann ist das kein gutes, sondern ein schlechtes Zeichen! Das Kind hat keine sichere Bindung. Welche Mutter würde das je von sich sagen wollen.

Aber es ist ja auch schön im Kindergarten. Ein Mikrokosmos für sich, ein fröhliches , buntes Miteinander. Schauplatz uriger Szenen und drolliger Komik, die aus Kindermündern kommt oder auch originellen Auftritten von Erwachsenen.

Kommen zwei Handwerker mit zwei riesigen stoffbespannten Holzrahmen. Sprechen Berlinerisch wie nur was und Frau Life Science ist wahrscheinlich die einzige, die das besonders findet. Sie haben eine auf ein Küchenkrepp (!) gezeichnete Skizze an die Wand geklebt und bringen die Rahmen entsprechend dieser an der Wand an, indem einer bohrt und der andere die Kehrichtschaufel unter das Bohrloch hält. Alles bei laufendem Kindergartenbetrieb und irgendwie in Slow Motion.

„Is Feng Shui, wa?“, lacht einer über die Anordnung der Rahmen, und auf die Frage wozu diese überhaupt dienten, antwortet der andere, sie sollen den Lärm schlucken. Denn öfter mal würde man hier gerne die Lautstärke etwas runterfahren (macht eine Drehbewegung an einem imaginären Regler). Sind wohl öfter hier, die Herren Bohr und Schraub. Ob es was nütze mit diesen Holzgestellen, wisse man nicht, aber nun seien sie schon mal da und dann hänge man sie eben „off“.

Direkt neben dem Kindergarten stehen Alpakas im Garten einer Seniorenwohnanlage. Sie tragen Trendfrisuren zur Schau und glotzen. Wenn Frau Life Science alt (älter) ist, möchte sie auch neben Alpakas wohnen. Mit oder ohne Eingewöhnung.