(365) Börlin – Oder: Blind Date mit dem neuen Zuhause

Sonntagabend in Berlin Hauptbahnhof eingetroffen. Dunkel, kalt, Regen. Man sieht nichts. Man empfindet nichts.

Mit Sack und Pack zum Uber gelaufen, soweit wie in New York. Einen Auto-Kindersitz quasi aus Versehen dabeigehabt, auch nicht schlecht. Ein Taxifahrer beobachtet die Szene mit verschränkten Armen. Frau Life Science vermeidet den Blickkontakt.

Das neue Zuhause hat die gleiche Hausnummer wie das im Dorf. Es gibt Dinge, die bleiben. Frau Life Science hat auch eine gewisse Neigung zu 6. Stöcken und zu Hauptstraßen. So ist sie einst von der Hauptstraße ihrer Kaiserstuhlgemeinde direkt in die Main Street in 10044 New York gezogen – die eine und einzige Hauptstraße von Manhattan (und fast die einzige Straße von Roosevelt Island).

Die Berliner Wohnung, mit der per WhatsApp-Video angebändelt wurde, ist einwandfrei. Aber am Sonntagabend ausgekühlt, weil der Lifescientist auch schon eine Weile nicht mehr hier war. Innerhalb einer Nacht kriegt man die nicht wohlig warm.
Hinzu kommt: das mitgebrachte Luftbett, von der Schwiegermutter zugespielt, erweist sich als Katastrophe. Vielleicht gut geeignet für Gäste, die nicht so lange bleiben sollen (Allein zu diesem Zweck sollte man es aufheben).

„Das Buffet ist eröffnet“, sagt der Lifescientist am nächsten Morgen ob der kümmerlichen Reste des Reiseproviants vom Vortag, die auf der Anrichte bereitliegen. Der Forschernachwuchs kriegt Haferflocken mit H-Milch. Frau Life Science schickt ihn in den Flur um sie  zu essen, doch er kommt zurück und sagt „Aber ich brauch einen Tisch?!“. „Gibt noch keinen Tisch“, sagt Frau Life Science und stellt einen umgedrehten Kochtopf in den Flur. Darauf stellt sie die Haferflocken. Das Kind schaufelt sie in sich hinein. „Ich brauch einen anderen Tisch“, meckert es und Frau Life Science hält ihm die Müslischale unter dem Mund. So geht´s.

Auf zum Kennenlern-Termin im Kindergarten. Das Projekt hat nach wie vor oberste Priorität und sobald der Kita-Gutschein für – Achtung: BEITRAGSFREIE Kinderbetreuung – eingetroffen ist, kann es mit der Eingewöhnung losgehen. Der Kita-Gutschein erspart einem in Berlin nämlich nicht nur die Kosten, sondern er ist auch Zugangsberechtigung für Betreuung überhaupt. Frau Life Science schwitzt Blut und Wasser, ob der Gutschein halbwegs zügig eintrifft, aber auftauchende Komplikationen verpuffen und auf einmal ist ein Brief vom Jugendamt im Briefkasten. Hurra!

Das Phänomen Eingewöhnungszeit ist auch sowas Deutsches. Wenn man einmal „Drop and go“ erlebt hat, muss man sich erst wieder umstellen! So drei Wochen (längere Zeit nicht ausgeschlossen) kann der Prozess der Eingewöhnung durchaus dauern, erst wenn die sie erfolgreich  abgeschlossen ist,  kann das Kind die volle Betreuungszeit alleine in der Einrichtung bleiben.

Es ist in Ordnung so. Gerade in der jetzigen Umbruchsituation, darf der Forschernachwuchs brauchen so lange er will. (Aber es wäre schon schön, er schaffte es bald). Er ist ja auch überhaupt nicht ausgelastet ohne Kindergarten. Und völlig überdreht.

Nach dem Kita-Termin gibt´s Mittagessen in der Gesundheitsfabrik, zusammen mit Patienten, Studenten, Ärzten und Dahergelaufenen in der öffentlichen Mensa. Und natürlich mit dem Lifescientisten.

Anschließend werden die vor einer Weile gelieferten New Yorker Pakete aus dem Büro einer diesbezüglich schmerzfreien Kollegin auf einen Rollwagen gepackt (oder besser die Hälfte, die anderen folgen später) und zu einem Uber geschoben. Frau Life Science trägt sie in die Wohnung und der Forschernachwuchs wirft den Inhalt wild herum oder trägt sie in „sein“ Zimmer. Er hat es sich ausgesucht (es war nicht das Zimmer, das für ihn vorgesehen war, aber wer möchte bei Liebe auf den ersten Blick widersprechen).

Ansonsten sucht das Kind ständig das Klo in der neuen Wohnung. Er weiß wirklich seit Tagen nicht, wo es ist! Zu „viele“ Türen. So sind Kinder. Frau Life Science hatte auch lange Schwierigkeiten, ihr Klassenzimmer in der ersten Klasse zu finden – in der Dorf-Grundschule. Dort gab es genau so viele Zimmer wie eine Grundschule Jahrgangsstufen hat. Hochkomplex, so eine Dorfschule!

Am Nachmittag des ersten Tages trifft die Lieferung vom Möbel-Schweden ein. Also vom osteuropäischen Subunternehmer desselben. Die Herren aus Moldawien und Litauen tragen eine Sitzgarnitur, einen Tisch, vier Stühle und eine Kommode in die Wohnung. Sie schnaufen und lassen flache Pakete von ihrem Rücken auf den blanken Fußboden gleiten. So, alles da.

Dann kippt die Stimmung. Das  EC-Karten-Lesegerätes schwächelt und es ist kein Ladekabel da. Der Herr aus Litauen hat es verwurschtbeutelt. Ob Frau Life Science auch bar bezahlen könne? Frau Life Science kann den Lieferumfang von einem großen Tisch, vier Stühlen, einer Sitzgruppe sowie einer kleinen Kommode – heute gerade mal nicht – bar bezahlen.

Die Herren stehen dermaßen unter Druck. Frau Life Science bietet an, den Betrag am Geldautomaten abzuheben bzw. dies zu  versuchen. Gemeinsam mit dem völlig verwirrten Forschernachwuchs (Was ist denn loooos, Mama????) fährt Frau Life Science auf dem Vordersitz des Lieferwagens  mit zum Geldautomaten, der im neuen Wohnviertel natürlich erst noch zu aufzufinden ist. Das Geld wird NICHT ausgespuckt. Funktion nicht zugelassen, heißt es. Betretene Gesichter bei den Möbelpackern.
Erst nach mehrmaligem Versuch mit EC-und Kreditkarte und mit Inkaufnahme lästiger Gebühren wird der Betrag in drei Einzelvorgängen ausbezahlt.

Die Herren fahren Frau Life Science und das Kind zurück zur Wohnung. Frau Life Science hat immer noch das viele Geld in bizarrer Stückung. Dann erzählen  die Männer unverständliches Zeug, wie das alles jetzt quittiert werden soll. Frau Life Science soll auf dem Lieferzettel schreiben, dass sie den Betrag bezahlt hat, dann selbst unterschreiben und der Kollege (der kein Deutsch kann) unterschreibe ebenfalls und lege seinen Ausweis zum Fotografieren bereit. Den Zettel selbst wollten die Herren mitnehmen und eine Quittung später per Email zusenden.
Frau Life Science fotografiert schon mal den Personalausweis des verstockten Kollegen, plötzlich sind die Herren noch gestresster aus vorher. So einzeln soll sie den Ausweis nicht fotografieren. Ok, dann löscht sie es eben wieder, sie will ja keinem zu nahe treten. Aber was ist das denn hier eigentlich für ein Gemache? Ist das alles hier überhaupt serös? Dieses Schweigen und Herumstarren. Diese unausgesprochenen Dinge.
Kommt Frau Life Science nächste Woche eine Hauptrolle als Raubopfer bei „Aktenzeichen XY“? Viel zu naiv war sie ja schon immer.
Mit dem per Telefon herbeigerufenen Lifescientisten klärt sich alles so halbwegs. Aber die Herren haben durch ihre eigene Schusseligkeit, den störrischen Geldautomaten und Frau Life Sciences hysterische Zweifel viel Zeit verloren.

Eine ernstzunehmende Quittung hat Familie Life Science übrigens bis heute nicht. Erfreut sich aber der Möbel.

Dieser Druck, unter dem die Lieferanten standen, diese Stimmung, wahrscheinlich weil sie ob der Zeitverzögerung Folgetermine nicht halten konnten, diese vielen Dinge, die sie nicht sagen konnten oder wollten, ziehen Frau Life Science den Rest des Tages runter.
Sie möchte eigentlich nicht Auftraggeberin einer versubunternehmerten Dumping-Dienstleistung sein, die andere Menschen aus weniger privilegierten Ländern und mit schlechteren Zähnen in schwierige Situationen bringt. Sie ist schließlich mit Litauen verwandt. So halb.

Zurück zu den Luxusproblemen. Der neue Tisch ist jetzt Ton in Ton mit dem Fußboden, war Frau Life Science jetzt nicht so klar. Phänomen Blind Date. Weder Wohnung noch Fußboden hat Frau Life Science wirklich life gesehen. Aber schön ist der Tisch, da gibt´s nix. Überhaupt, die erste halbwegs seriöse Einrichtung für Frau Life Science. Dass sie das noch erleben darf!

Oder was heißt seriös. Familie Life Science baut die gelieferten Möbel im Laufe der Woche spätabends selbst auf, weil der Aufbau als Dienstleistung in Anspruch zu nehmen (soweit ist man ja schon) zu lange dauert und zu umständlich und trotzdem recht teuer ist. Und vermutlich von gestressten Subunternehmern ausgeführt wird.

Auf diese Weise kann man es sich gleich von Anfang an mit den Nachbarn verscherzen, denn ohne Klopfen und Rattern geht es nicht mit dem Möbel aufbauen. Zum Glück hat sich noch niemand beschwert.

Bei der Sitzgruppe gilt es nach möbelschwedischer Art die Bezüge selbst über die Polster zu spannen und mit Klettverschluss zu fixieren. Fitzelarbeit! Frau Life Science kannte mal eine, die lernte das als Beruf: Polstern und so. Gar nicht so einfach! Da fragt man sich schon, ob es sinnvoll ist, dass dies Wissenschaftler nach Feierabend machen.

Die Berliner Wohnung ist im Vergleich zum Inselapartment viel komplizierter in Betrieb zu nehmen. Bei letzterem waren (Gemeinschafts-)Waschmaschine, Kühlschrank, Mikrowelle, Spülmaschine und die amerikanischen Wandschränke, die man nicht hoch genug preisen kann, von Anfang an vorhanden. Ebenso Klorollenabroller, Badspiegel, Duschvorhang und ein halbwegs funktionstüchtiger Sicht- und Sonnenschutz an den Fenstern.

Frau Life Science ist es bald leid, Riesen-Wasserpfützen mit viel zu wenigen Handtüchern vor der Badewanne aufzuwischen, die man mangels einer Waschmaschine nicht waschen kann. Ein Duschvorhang mit der New Yorker Skyline, der alsbald geliefert wird, klemmt Frau Life Science ins Badfenster und befestigt das andere Ende am Erdungskabel der Deckenlampe (bzw. Glühbirnenfassung). So beginnt Wohnen!
„Das war unser Haus“, ruft der Forschernachwuchs und zeigt auf dem Duschvorhang einen beliebigen Wolkenkratzer in Midtown. Fast, Forschernachwuchs!

Jetzt hat Frau Life Science nur über Sachen gesprochen. Aber wie sind sie denn, die Berliner?

Launig, nett, hilfsbereit. Gesprächig wie nur was. Sie haben Sinn für Humor. Ein bisschen wie die New Yorker, wa?

 

Eine Nachbarin hat ein Paket für Frau Life Science angenommen. Hm, sowas hat sie doch gar nicht bestellt. Was kann das sein? Ein Kinderfahrrad? Wurde jetzt nach Amazon Prime und Amazon Prime Now auch Amazon Prime Think eingeführt, dass lediglich vom Käufer GEDACHTE Ware frei Haus liefert? Oh Schreck!


Doch kein Kinderfahrrad. Es ist nur die Teloskop-Klemmstange für den Duschvorhang. Und für die Entsorgung dieser und anderer Kartonagen auf dem örtlichen Recyclinghof braucht Frau Life Science bald einen Mietwagen. Für sonst nix.