Kennen Sie Pax? Natürlich kennen Sie Pax. Sie haben doch einen zuhause. Jeder hat einen zuhause! Wenn nicht Sie, dann Ihr Nachbar. Also Pax, falls Sie es nicht wissen, sind diese überteuerten kuntststfoffbeschichteten Pressspahnplatten, erhältlich beim schwedischen Möbelhaus, die flexibel kombiniert einen Kleiderschrank beliebiger Größe und Aufteilung ergeben. Noch ein paar weiße Türen dran, fertig.
Familie Life Science hat keinen Pax. Im Land der eingebauten Wandschränke brauchte man keinen und aus der Zeit davor ist auch kein Pax, geschweige denn ein anderer Schrank mehr vorhanden. Der einstige Schrank vom Lifescientisten war vor der Ausreise völlig zurecht auf dem Sperrmüll gelandet, und der von Frau Life Science war gar keiner, sondern eine Kleiderstange in einem Mauervorsprung mit einem Vorhang davor. Wandschrank Marke Eigenbau, war super. Hätte sie gerne zurück, gibt aber kein Wandvorsprung mehr.
„So ein Pax kommt mir nicht ins Haus“, sagt Frau Life Science, als Ende 2018 die ganze Familie in der New Yorker Filiale des Möbelschweden zukünftige Wohnmöglichkeiten für den wandschranklosen Neuanfang in Berlin eruiert.
Also kein Pax in Berlin. Scheint auch viel zu teuer für das, was man da kriegt. Es ist ja schließlich nicht die einzige Abschaffung in diesen Wochen. Wer soll das bezahlen?
Aber seit fast einem Monat nur aus Koffern leben und einen einzigen müden Kleiderständer mit Klamotten von drei Leuten vollhängen – schön ist das nicht!
Darum schmiedet Familie Life Science folgenden Plan:
Sie buchen mitten in der Woche ein Fahrzeug beim Rent-a-Car um die Ecke, um einen einen großen und einen kleinen Schrank abzutransportieren, den eine sympathische Dame vom Nachbarschaftsnetzwerk günstig abgibt, da sie aus Altersgründen in eine kleinere Wohnung ziehen möchte. Akkuschrauber und Werkzeugkasten vorhanden, Decken als Polstermaterial gerichtet. Kind im Kindergarten. Fahrtweg unter einem Kilometer. Kann ja eigentlich nichts schief gehen. Ist ja auch eine tolle Sache, nicht nur Lebensmittel zu retten, sondern auch Schränke. Man hat bereits genug weggeschmissen in New York!
Hört sich alles super an, ist aber eine Schnapsidee. Denn auf diesem Schrank liegt ein Fluch.
Über schicksalhafte Möbelstücke schreibt niemand so gut wie dieses Fräulein, daher soll es an dieser Stelle gar nicht erst versucht werden, es ihr gleichzutun.
Aber dieser Schrank hat es in sich. Das merkte man schon, sobald man die ersten Schrauben löste. Da das Möbel nicht nicht aus Pressspahn ist, sondern teilmassiv und in etwas „hochwertigerer“ Ausführung, besitzen die Schrankteile ein Eigengewicht und ein physikalisches Verhalten, mit dem man nicht ohne Weiteres rechnet.
Der Lifescientist zum Beispiel lehnt die abgeschraubte Deckenplatte – die wirklich nicht groß ist, gegen eine aufgeklappte Leiter, und die fällt einfach um. Zu schwer! Ein Glas geht dabei zu Bruch. „Macht doch nichts“, ruft die Vorbesitzerin des Schrankes aus dem Nebenzimmer.
Einfache Zapfenverbindungen, wo sie nicht irgendein nicht näher bekannter Pfuscher hinter dem Rücken der korrekten Seniorin durch völlig andere Schrauben ersetzt hat, verhaken sich und funktionieren nicht, wie sie sollen. Ist „offen“ nun offen, oder ist es offen, wenn sie „zu“ sind? Kann man nicht mehr nachvollziehen. Die sackschwere Mittelwand (genaugenommen zwei Schrankwände aneinandergeschraubt) lässt sich nur aus der Verankerung lösen, wenn die vier verkorksten Zapfen auf der richtigen (oder der richtigen falschen) Position stehen. Was tun?
„Wir müssen jetzt alle Möglichkeiten durchprobieren, klar?“, sagt der Lifescientist. Kombinatorik für Anfänger, es nervt total: Auf-Auf-Zu-Zu. Auf-Zu-Zu-Zu. Auf-Auf-Auf-Zu. Auf-Zu-Auf-Zu. Es ist zum Mäuse melken! Irgendwann geht es und die Mittelwand lässt sich lösen.
Die beiden Schränke und ein schmales Regal, das Familie Life in grenzenloser Naivität spontan auch noch mitnehmen möchte, weil es so schön zu den Schränken passt, sind mit so einigen Schrauben auch noch untereinander verbunden, obwohl es doch einzelne Möbel sind. Einfach so verschraubt! Schrauben Sie zuhause Ihre Möbel auch aneinander? Nee, oder?
Die Vorbesitzerin wusste das auch nicht. So viel Aufwand alle Schrauben zu lösen! Alles dauert lang und länger.
Der Abtransport mit dem Aufzug ist auch eine Katastrophe. In einem fort schließt sich die automatische Aufzugtür mit einer Gewalt, die man sonst nur von New Yorker U-Bahnen-Türen kennt. Es ist fast nicht möglich, mehr als ein, zwei Bretter in den Aufzug einzuladen.
Die Zeit verstreicht. Auch die Haustür unten fällt ständig zu. Man muss die Dame wieder rausklingeln, obwohl man sich längst verabschiedet und sich ein schönes Leben noch gewünscht hat. „Macht doch nichts“, ruft die Dame durch die Sprechanlage.
Der Lifescientist klemmt einen Ast, den er im Vorgarten findet, in die Tür, sie schließt sich trotzdem, und es verbiegt sich sogleich ein Metallstreifen im Türrahmen. Oh Nein! Frau Life Science will das gerade schnell mit der Zange aus dem Werkzeugkasten gerade richten, so leicht wie es sich verbogen hat kann man es bestimmt auch wieder zurückbiegen, da kommt die Dame von oben herunter, sie nimmt extra die Treppe, denn der Aufzug wird ja gebraucht, und möchte die Haustür für die Dauer des Abtransports höchstpersönlich aufhalten. „Ach, Frau R.! Das müssen Sie doch nicht…!“
Zum unauffälligen Geraderichten des Türrahmens bleibt jedenfalls keine Möglichkeit mehr.
Beim kleineren Schrank lösten sich die Seitenwände gar nicht erst, man muss ihn so zum Transporter tragen, als U-förmiges Etwas. Wenn es nur nicht so schwer wäre, scheiß teilmassiv! Koordiniertes Tragen der Eheleute klappt gar nicht. Erlebnispädagogen und Teambilder hätten die helle Freude an dieser Übung und dem Scheitern ihrer unfreiwilligen Teilnehmer! Die Hebelwirkung an den beiden Armen dieses „U“ tut ihr Übriges und die Seitenwände brechen beim Tragen beide aus ihrer Verankerung aus. Schränkchen kaputt.
Die Nerven liegen blank, und die Zeit ist schon viel zu weit fortgeschritten. Es drängt die Frist vom Autovermieter, eine halbe Stunde kann man telefonisch noch rausholen, aber das ist es nicht allein, der Kindergarten hat auch nicht ewig offen und liegt alles andere als um die Ecke.
Zum sachgemäßen Einladen und Abpolstern der Möbelteile bleibt keine Zeit. Schnell rein damit und fertig!
„Nie wieder machen wir so eine Aktion“, sagt Frau Life Science, als sie den Transporter die kurze Strecke nach Hause bewegt.
Schon beim Ausladen auf dem Gehweg vor dem eigenen Haus zeigen sich unschöne Kratzer in den Fronten der Möbel. War ja klar! Aber es ist eine Schande!
Die Sachen müssen jetzt hoch in die Wohnung. Unnötig zu erwähnen, dass gerade das Treppenhaus frisch gestrichen wird. Immer wieder arbeiten die Handwerker etwas daran, dann wieder geschieht nichts, aber natürlich: heute – sind sie wieder dran.
Dann setzt noch Regen ein.
„Also diese schwere Platte, die schaff ich nicht. Kraftaufwand UND Feinsteuerung zugleich krieg ich nicht hin“, sagt Frau Liefe Science, und der Lifescientist muss einen Bauarbeiter um Hilfe fragen. Frau Life Science muss sowieso zum Kindergarten.
Der Aufbau der unseligen Möbelstücke wird aufs Wochenende verschoben. Auf abends, wenn das Kind schläft. Natürlich schläft es später als sonst, macht ein Riesentheater. Erst sehr spät kann mit dem Aufbau begonnen werden.
Durch eine blöde Unachtsamkeit von Frau Life Science fällt beim Aufbau die Deckenplatte des großen Schrankes herunter, bevor sie der Lifescientist sie festschrauben kann. Knallt mit voller Wucht auf den Fußboden, die Seitenwand kriegt dadurch einen Stoß und stürzt mitsamt dem Holzstuhl, der sie eigentlich stützen soll, um. Dabei war sie schon teilweise verschraubt – Stichwort Hebelwirkung. Riesenkrach, abends um zehn, die umfallende Schrankwand schlägt auch das Netzteil des Festnetztelefons aus der Steckdose und einen Zacken in die weiße Schlafzimmertür. Nach einem neuen Netzteil für das ältere Telefon, optisch in Ordnung aber jetzt innerlich kaputt, sucht Frau Life Science drei Tage lang. Und auch diese Seite des Schrankes hat nun ausgefranzte Verbindungen, die nichts mehr stabil halten können. Beide Schränke kaputt! Was für eine Bilanz!
Kurzum, mit diesem ollen Schrank und seinen zwei hölzernen Kumpanen hat es einfach nicht klappen wollen. Überhauptgarnichtnicht, würde der kleine Schatz sagen.
Es war einfach der Wurm drin. Vielleicht denken Sie, das liegt am Lifescientisten. Wissenschaftler können so etwas Praktisches eben nicht. Das stimmt so nicht (ok, mit einem Kreuzaufsatz auf dem Akkuschrauber zwei Inbus-Schrauben blankschleifen, das hätte nicht sein müssen.) Aber sonst: Der Lifescientist kann so etwas durchaus auch mal, und wenn nicht, lernt er es schnell. Zuerst nachdenken und dann handeln ist auch eine seiner Stärken, die ihm in der Regel zu Gute kommt und die Frau Life Science manchmal leider völlig abgeht.
Der Verlauf des Projekts muss dennoch als suboptimal beschrieben werden. Der Zeitaufwand und die Arbeitsbelastung steht in keinem Verhältnis zum Nutzen.
Aber jetzt: Der Schrank steht jetzt wie ne Eins. Anders als geplant. Alle drei Teile in einem Zimmer, wie bei der Vorbesitzerin. Nur so ist alles wieder stabil. Noch dazu drei Zentimeter von der Wand weg, weil die Möbel keinen Auslass für Sockelleisten haben. (Bei Pax wäre das nicht der Fall!)
So hatte Frau Life Science es nicht haben wollen. Aber: He; Mann, sie hat sich die Stadt nicht ausgesucht, in der sie lebt, die Wohnung auch nur so halb, warum sollte sie jetzt die Wahl haben, wie ihre Möbel die nächsten Jahren stehen? Alles halb so wild!
Sämtliche ausgebrochene Verbindungen an den Möbeln haben die Eheleute mit ausreichend Metallwinkeln aus dem Baumarkt geschient, es hält jetzt eigentlich besser als vorher. Solche Metallwinkel sind eine geniale Sache!
Nicht zu unterschätzen bei Oberflächenkratzern ist übrigend gute deutsche Möbelpolitur. Sie vollbringt wahre Wunder. Kaum zu fassen!
Eine Rest-Angst bleibt: Lässt der Lifescientist unbedacht einen hölzernen Topf-Untersetzer auf den Esstisch fallen, so ist es Frau Life Science zumute, als krache im Schlafzimmer der schwere Schrank in sich zusammen und begrabe alles Lebende unter sich.
Das ist ganz und gar unbegründet. Keinen Millimeter bewegt sich mehr der fertig aufgebaute Schrank und seine Kumpanen, egal wie sehr man zieht und rüttelt. „Es ist jetzt alles sehr stabil so“, sagt der Lifescientist, der ja immer großen Wert auf Sicherheit legt. „Aber diese Sachen nehmen wir nirgends hin mehr mit. Das bleibt alles hier.“
Sollte die Familie irgendwann wieder einmal umziehen, kann sie sich ja dann doch einen Pax kaufen. Übrigens: Pax ist in der römischen Mythologie die Personifikation des Friedens. Passt irgendwie…
Gestatten, mein Name ist Pax…
Nicht inbegriffen sind im Preis die Gebühren für Lieferung und Aufbau und – nicht zufällig – die Türen!