Der Lifescientist hat eine Studentin aus Indien ins Team aufgenommen, die hier schon landete, bevor ihr Wohnheimzimmer beziehbar war. Schon länger hatte der Lifescientist angeboten, die ersten Tage im Hause Life Science unterzukommen. Sie schien es verständlicherweise erst einmal selbst versuchen zu wollen.
Sehr, sehr kurzfristig, als schon längst keiner mehr damit rechnet, signalisiert sie doch Interesse an der privaten Unterkunft. Scheibenkleister, jetzt hat sich fürs Wochenende schon eine Freundin von Frau Life Science mit Partner angemeldet. Letzterer auch noch mit erhöhtem Ruhebedürfnis. Ein separates Zimmerchen ist fest versprochen und sämtliche Freizeitpläne bereits geschmiedet.
Was tun?
Frau Life Science zermartert sich das Hirn, ob es denkbar wäre, der Inderin die angebotene Gastfreundschaft wieder zu entziehen, oder wie man alternativ die Gäste aneinander vorbeischleusen könnte. Ob es möglich wäre, alle gleichzeitig zu beherbergen und wie sich die Schlange am Bad dann praktisch gestalten würde.
Die Freundin wieder auszuladen, ist jedenfalls ausgeschlossen!
Man entscheidet sich für die Hostel-Lösung: Die Inderin zwei Nächte im Hause Life Science. Dann fliegender Wechsel der Gäste und die Inderin wird in ein vom Lifescientisten gebuchtes Hostel verlegt, sodass sie auch nicht gezwungen ist, in ihrer Freizeit und ohne richtige Beschäftigung im Hause des neuen Chefs zu hocken.
Am Tag der Ankunft von Akshara glänzt der Lifescientist wieder mal durch Abwesenheit. Er ist in einer anderen Stadt, soll spät zurückkommen (und kommt noch später). Frau Life Science selbst hat auch zu wenig Zeit, muss aber irgendwie rechtzeitig zuhause sein, die Tür öffnen und für den Besuch irgendetwas auf den Tisch bringen.
„Irgendetwas“ ist dann fertige Pierogi aus dem Polen-Laden mit Salat, für eine Soße reicht die Zeit nicht mehr. Als typisch deutsche Kost geht das wohl nicht durch. Aber immerhin vegetarisch, dann ist man auf der sicheren Seite und es gibt zwei Sorten zur Auswahl. Schmecken tun sie jedenfalls hervorragend. Pierogi essen hat Familie Life Science in New York von einer Slowakin gelernt, sie scheinen also durchaus international kompatible Kost zu sein.
Um halb sieben klingelt das Telefon und die Inderin teilt mit, dass sie jetzt, genau jetzt vor der Haustür stehe. Man hat ja hierzulande Türklingeln, aber vielleicht weiß sie das noch nicht. Jedenfalls hat sie es geschafft, alleine mit Bus, U-Bahn, nochmal Bus und zu Fuß zum Hause Life Science zu gelangen. Samt ihren Habseligkeiten für die nächsten Monate, verteilt auf einen einzigen Koffer und ein Handgepäckstück. Den Rest muss man zukaufen, so ist das eben.
Der Koffer ist entsprechend schwer, gar nicht so groß, aber die junge Frau sehr klein und zierlich. Die paar Stufen bis zur Wohnung machen ihr mächtig zu schaffen. Sie hat ja auch schon eine 20-stündige Reise hinter sich. Aber als Ma´m (so nennt die Studentin Frau Life Science) darf man da aber nicht beim Hochtragen helfen. Aber immerhin das Handgepäck gibt sie ab. Dann bezieht sie das Zimmerchen.
Jetzt heißt es, Essen richten. Akshara erkundigt sich, ob es in Ordnung sei, wenn Sie sich jetzt bequeme Kleidung anziehe. Auch das noch, Frau Life Science soll über die Angemessenheit der Kleidung anderer Leute entscheiden. Es reichen ihr doch ihre eigenen Unangemessenheiten! Dann bietet Akshara ihre Hilfe beim Kochen an.
Was soll man da sagen? „You just came all the way from India today, why don´t you just fry the Pierogi in the pan now while I prepare the salad?“ (Diese Bemerkung verkneift sich Frau Life Science natürlich).
Das mit dem „Ma´m“ will Aksahra auch partout nicht lassen, jegliches Anbieten des Vornamens bringt sie nur in Verlegenheit.
Als Frau Life Sciebce selbst Studentin war (wenn auch nicht 24), betreute sie einmal kurzzeitig ein Mädchen über die Lebenshilfe. Super Familie. Der Vater wollte schlicht „Fetts“ genannt werden, ein Spitzname aus seiner Jugend, der im bis in die Vierziger geblieben war. Sie wollen nicht wissen, wofür der Spitzname steht, jedenfalls war es auch nicht angenehm, so seinen „Chef“ nennen zu müssen. Ähnlich muss es Aksahara gehen, wenn sie die Ma´m mit Vornamen ansprechen soll. Frau Life Science wird das die nächste Zeit lieber nicht mehr vorschlagen.
Dafür lobt Frau Life Science beim Abendessen Akshara für ihre Tapferkeit, in jungen Jahren ganz alleine so weit weg von der Heimat zu gehen. Es ist ja doch bemerkenswert!
„You would have done the same, Ma´m“, behauptet Akshara. Frau Life Science ist sich da nicht so sicher.
Am zweiten Tag, der Gast hat inzwischen einen Haustürschlüssel, piepst das Telefon von Frau Life Science: Ob das Türschloss nach zweimal drehen aufgeht, möchte Akshara wissen. Da der Lifescientist der letzte war, der das Haus verlassen hat, scheint die Annahme richtig (Er lässt schließlich nicht einfach die Tür ins Schloss fallen mit dem Gedanken, wenn die Familie aus dem Haus ist, ist nichts Wertvolles mehr dort zu holen.)
Aber warum kriegt sie es nicht auf? Sie schafft es einfach nicht!
Frau Life Science muss ihr Nachmittagsprogramm abbrechen und die junge Frau aus der misslichen Lage befreien. Das Problem: man muss ja bei den meisten Schlössern nach den Umdrehungen noch eine Viertel- oder Achtel-Drehung weiterdrehen und mit Kraft gegen einen Widerstand anhalten, ehe das Schloss aufspringt. Da denkt ja keiner drüber nach.
Es sind die kleinen Dinge, die „Automatischen“, die einem das Leben in der Fremde zeitweise zur Hölle machen können.
„Working differently in your country?“, fragt Frau Life Science, als sich die Tür bereitwillig öffnet. Akshara nickt schließt genervt die Augen.
Wieder kurz vor dem Abendessen, kommt sie mit dem Antragsformular in die Küche. „Where is Sir?“, fragt sie leicht irritiert. Er war doch gerade noch da!
Sir was in Sandbox with Sir junior zu dem Zeitpunkt. Beide kommen jedoch rechtzeitig zum Abendessen mit staubigen Hosen zurück und der Sir erklärt auch bereitwillig das Formular.
Frau Life Science hat wirklich gerne Gäste. Aber was ihr nicht liegt, ist das ständige Antizipieren, was der andere gerade brauchen könnte, wenn er es nicht sagt. Der Lifescientist ist ihr da auch keine Hilfe. Man muss sich bei Frau Life Science schon die Schrippen selbst auf dem Korb nehmen, Frau Life Science denkt nicht daran, explizit zu fragen, ob die Backwaren, die gut sichtbar auf dem Tisch stehen, jemand essen möchte. Schlimmer noch, manchmal vergisst sie sogar entscheidendes Zubehör in der Küche, wobei der Gast das dann am besten proaktiv anspricht. Gelingt ihm das, steht einer wunderbaren Tischgemeinschaft nichts im Wege.
Letzteres ist natürlich etwas schwierig, wenn der Gast sich in einem abhängigen Verhältnis befindet, und dieses aufgrund der kulturellen Prägung noch intensiver wahrnimmt, als es tatsächlich gegeben ist.
Trotz aller Höflichkeits-Verklemmungen und den verzweifelten Versuchen von Akshara, dem unstrukturierten Haushalt im Hause Life Science irgendeine Form abzuringen, war es eine tolle Erfahrung, die neue Studentin kennen zu lernen. Und Sir Junior hat sie auch ins Herz geschlossen.
Mögen sich Akshara künftig alle Türen bereitwillig öffnen und möge ihr gelingen, was sie sich vorgenommen hat.
