(420) Eine Cola für Swiss Mom

Im Familienbereich der Deutschen Bahn steigen Frau Life Science und der Nachwuchs-Schaffner in ein Abteil, das schon zu vier Sechsteln besetzt ist. Es reisen heute mit durchs Land: eine schweizerische Mutter, adrett gekleidet, gefühlt halb so alt wie Frau Life Science, und deren Kinder Klara (0), Emilia (2) und Leopold (4).

Frau Life Science ist schwer beeindruckt. Zwar macht sie selbst nicht gerade alles falsch beim Erziehen, aber auch nicht so viel richtig wie die junge Schweizerin. Was ja bei kleinen Kindern ungemein hilft, ist wenn man im positiven Sinne führt. Das liegt nicht jedem. Manche Eltern lehnen es sogar bewusst ab. 

Swiss Mom aber ist die Chefin des Zugabteils. Sie weiß, wie Zugfahren geht und sie führt diese ihre Gruppe von Basel/CH ins 639 km entfernte Hildesheim/D. Im Einzelnen sieht das folgendermaßen aus:

Der Klogang: „Musch go piselä, Emilia?“ fragt Swiss Mom. Dann schnallt sie sich in aller Ruhe das Baby um und im Gänsemarsch wackeln die vier in Richtung Klo. Das dauert so lange wie es dauert. „Jetz müasch verhebe, Emilia, ok?“.
Merke: Gute Eltern verbreiten keine Hektik.

Nach den ersten deutsch-schweizerischen Interaktionen im Abteil werden zum ständigen Toilettengang nur noch Teilgruppen gesandt, eines der Kinder darf bei Frau Life Science bleiben bzw. auf sich selbst aufpassen.
Als kurz vor dem Ausstieg in Hildesheim Frau Life Science der Familie noch etwas nachträgt, sitzt gar die Zweijährige alleine auf dem Koffer und wartet völlig entspannt auf die Wiederkehr der Restfamilie aus der abgeschlossenen Toilette.
Merke: Gute Eltern haben Vertrauen. In andere, aber vor allem in die Kinder selbst.

Leopold braucht mit seinen vier Jahren noch Mittagsschlaf. Es gibt solche Kinder. „Ja geht denn das hier im Zug?“, fragt Frau Life Science besorgt. Es würde noch ein bisschen schwierig werden, meint die Mutter, aber es klappe dann schon.
Merke: Gute Eltern gehen vom Gelingen aus.

Nun ist es tatsächlich Zeit für das Nickerchen zur Erhaltung der psychischen Widerstandskraft. „Wo wöttsch ani ligä?“ Leopold entscheidet sich für den Fußboden, Emilia streckt sich auf den Sitzen aus. Swiss Mom gibt Anweisungen, wie Leopold zu liegen habe und dass der Kopf nicht in Staub und Dreck, sondern auf der Jacke positioniert sein solle. Fertig.
Nun aber will Leopold plötzlich doch nicht mehr auf dem Boden schlafen. Zu spät! „Näscht mol überlegsch dir´s vorher“, sagt die Mutter. Er muss bei seiner Entscheidung bleiben. Weil es sowieso nicht um die Liegefläche geht, sondern nur darum, dass Leopold innerlich noch nicht zur Ruhe gekommen ist.
„Aber es ruckelt so“, sagt das Kind.
„Das ist doch gut“, sagt die Mutter.
Dann streitet er noch zehnmal mit der kleinen Schwester über ihm, abwechselnd spielt er mit ihr oder macht Faxen. Beständiges Ermahnen von Swiss Mom. Kein Schimpfen. Bis alles einfach nur noch langweilig wird.
„Höret uuuf mit küfele“, sagt sie mit milder Stimme.
„Höret uf.“
„Jetzt höret ihr uf.“
Was immer küfele ist, Leopold und Emilia lassen es irgendwann sein.

Merke:
 Steter Tropfen höhlt den Stein.

Nach gut fünfzehn Minuten knockt Emilia aus, kurze Zeit später Leopold. Die Augenlider der Kinder sehen aus wie zugezogene Reißverschlüsse. Von da an weint das Baby eine halbe Stunde am Stück. Zähne! Die Kinder schlafen weiter, nur die Pause für die Mutter entfällt.
Als das Baby nicht mehr schreit, geht sie ins Bordrestaurant und bringt Getränkenachschub, denn das mitgebrachte Wasser geht zur Neige.

Jetzt aber. Können Sie sich vorstellen, was Swiss Mom ihren Kindern zum Trinken reicht? Äs Cola!!!
Sie haben richtig gelesen: Das Erfrischungsgetränk Coca Cola in der Standardausführung mit Zucker, Koffein, Farb- und Konservierungsstoffen sowie Kohlensäure für eine Zweijährige und ihren großen Bruder. Na, denn: Prost!
Cola für kleine Kinder! Das hat Frau Life Science (ihrerseits passionierte Gelegenheits-Colatrinkerin) noch nirgends gesehen. Die Mutter füllt es in die rosarote und in die hellblaue Camelback-Trinkflaschen, kippt alibimäßig etwas Sprudel hinterher und stellt es den Kindern direkt hin. Die gerade aufgewachten Mäuse strahlen. Äs Cola drinne! Sie kennen es und haben es nicht zum ersten Mal.
Merke: Gute Eltern leisten sich Freiheiten.

Swiss Mom fährt von Basel bis Hildesheim, ohne das Emilia oder Leopold ein einziges Mal geweint hätten. Bei Einfahrt in Hildesheim ist die Mutter vielleicht etwas erschöpft, aber keinesfalls nicht mehr sie selbst. 

Entspannt und gut Eltern sein – wo lernt man das? Einiges ist wahrscheinlich menschliche Intuition, vieles sicher auch abgeguckt. Frau Life Science geht davon aus, dass man das idealerweise beim Zusammenleben mit Generationen verinnerlicht, da wo es das noch gibt; und im gemeinsamen Alltag mit Kindern, schon bevor einen eigene heimsuchen.

In Büchern jedenfalls steht es selten.

 

IMG_8106im ICE 273: Sich auf das Wesentliche konzentrieren und das Ziel nicht aus den Augen verlieren.

5 Gedanken zu “(420) Eine Cola für Swiss Mom

  1. Grandioser Artikel mit – ich kann es als „halbi Schwiizeri“ beurteilen, perfekt zitierten Schwyzerdütsch-Passagen!🙂 Den Artikel hänge ich mir wohl an den Kühlschrank. Respekt für die Dame im Zug und deine wunderbar auf den Punkt gebrachte, lakonische Beschreibung! Lg, Sarah

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    1. Liebe Sarah!
      Vielen Dank.
      Ich möchte auch noch erwähnen, dass die Dame keinerlei Bildschirmunterhaltung zu Hilfe nahm, was mit Kindern in Fernzügen ja mittlerweile Standard ist.
      Ich musste beim Schreiben sehr an deinen Text vom „Folgewillen“ denken. Vielleicht möchte jemand da weiterlesen:
      https://mutter-und-sohn.blog/2019/05/15/ich-bin-hier-der-boss-fuehrungs-und-folgewille-von-kindern/
      Schöne Grüße
      Frau Life Science

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      1. Hey, dann war „Swiss Mom“ ja offensichtlich in vielerlei Hinsicht das Beobachten wert!🙂 Danke fürs Verlinken und für den so leicht verpackten Tiefgang deiner Texte! Auf bald wieder einmal. Liebe Grüße, Sarah

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  2. Da kann ich nur sagen, Unfallversicherung ist Sache der Eltern.

    Das ist mein Lieblingsspruch aus meiner schweizer Kleinkindzeit, die ich mit meinen Kindern erleben durfte. Diese hier wunderbar erlebte Gelassenheit hat mich während den 6 Jahren Schweiz manchmal doch wahnsinnig gemacht. Aber der Dialekt ist einwandfrei beschrieben 😉

    Darauf einen Kägifret 😉

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    1. Hallo Frau B !
      Danke für den Kommentar.
      Du hast wohl recht, auch die coolste Geisteshaltung hat zwei Seiten!
      Dialekte und andere Fremdsprachen sind übrigens nicht so meine Stärke, bin froh, dass es nicht aufgefallen ist.

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