Wer regelt den Ameisenhaufen?

Frau Life Science ist zurück im Schuldienst. Anderes Bundesland, andere Schulart, andere Klassenstufe. Aber vor allem: andere Zeiten. Es ist das Schuljahr 2020.

Montag beginnt der Unterricht. In den Konferenzen und Besprechungen versuchte das Kollegium vergangene Woche immer noch, die Anpassung des Schulalltags an den Muster-Hygieneplan weiter zu optimieren.

Ein großes Problem scheint hierbei: Zu viele Leute treffen aus zu vielen Gründen zu zahlreich aufeinander. Schule halt. Sie ist zeitlich, räumlich und personell hoch verschränkt. Wer regelt den Ameisenhaufen? (Obwohl, Ameisen in echt könnten das eventuell schaffen).

Also, diese Verschränkung: Der Kollege C. ist in der Grundschule und der Mittelstufe tätig, und legt schlimmstenfalls gleich zwei Schulen lahm, die Klasse 3a hat ihr Zimmer neben der 4b, obwohl sie keine Kohorte bilden, die zweiten Klassen können nicht früher anfangen, weil dann ihre Lehrer nicht rechtzeitig in die nächste Klasse rennen könnten. Das alles ist überkomplex. Jede Änderung im System zieht einen Rattenschwanz nach sich, keine noch so scharfsinnige Einzelperson kann das alles vollumfänglich überblicken.

Als müsste man Schule komplett neu denken. Vergessen, wie sie seit Jahren stattfindet, sich einigermaßen bewährt und sich weiterentwickelt hat. Kein Schema mehr anstreben, sondern alle zeitlichen, räumlichen und sonstigen Bedingungen in eine wundersame Software einspeisen, die nach vier Minuten Rattern ausspuckt, was jetzt noch geht: Dass die 6a immer dienstags in der Turnhalle Physik macht und die Erstklässler um 19:30 Uhr beim Hausmeister im Musiksaal Reli haben. Oder so.
In diese fantastische Software müsste man auch eingeben können:
Frau M. Sportunfall. Fällt aus bis zu den Herbstferien.
Oder: Herr M. infiziert, seit letzten Mittwoch.
Neu rechnen, Enter.

Was braucht es noch, außer einer wundersamen Software? In der Schule und überhaupt?

Die Schulleiterin eröffnet die Konferenz mit einem kurzen Prosatext „Abwarten? Tun!“ von Erich Kästner (†1974), der das Kollegium sprachlos macht. Aus einer Ecke der Aula, in der man gestreut sitzt, fragt eine Kollegin: „Wann ist denn das geschrieben worden?“
„Letzten Samstag“, ruft ein Kollege aus einer anderen Ecke.
Der Scherzkeks hat Recht. Genauso muss es gewesen sein, denn anders ist die brennende Aktualität nicht zu erklären.
Der Text beschreibt die menschliche Tendenz, abzuwarten und unangenehme Entscheidungen anderen zu überlassen. Er lädt zu einer Haltung ein, nein, fordert sie von uns allen, eine Haltung des Annehmens von (Mit)verantwortung. Ach, lesen Sie doch selbst. Aber nicht hier, denn hier hält man sich nicht nur an den Muster-Hygieneplan von 2020, sondern auch an das Urheberrecht, demzufolge Kästner-Texte erst 70 Jahre nach seinem Tod auf Blogs erscheinen dürfen.
Das macht nichts, denn auch im Jahre 2044 wird jemand dringend fragen wollen: „Wann ist denn das geschrieben worden?“
Kästner halt.

2 Gedanken zu “Wer regelt den Ameisenhaufen?

  1. Liebe Rena,

    Natürlich habe ich den ( wie ich jetzt im Nachhinein sagen kann) großartigen Text von Kästner gegoogelt und scheinbar halten sich nicht alle so vorbildlich an die 70 Jahre Regelung ( ich fand ihn auf einem Blog). Ich hoffe, Deutschland verkompliziert den Start in den Schulalltag nicht genauso wie den Bau des Berliner Flughafens….in Basel klappt es seit Mitte Mai an den Primarschulen ohne größere Corona-Katastrophen.

    Ganz großes Kompliment zu deinem Blog! Ich werde weiter lesen!

    Lg aus dem Jolberg Haus 🙂
    Birgit

    Gefällt 1 Person

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