Freitagnachmittagsdiagnose

Das ist eine typische Freitagnachmittagsdiagnose, witzelt der Oberarzt bei aller gebotenen Ernsthaftigkeit, und kreist mit dem Schallkopf über Frau Life Sciences eingegelten Bauch. Es ist der dritte Arzt an diesem Tag, die dritte Liege und die vierte Ultraschalluntersuchung. Klar ist eigentlich nur eines: Dass es ein Problem gibt und zwar ein gravierendes. In Babys Herz.

Im Land der gravierenden Diagnosen haben Ärzte Zeit. Sie lassen sich aus anderen Flügeln und Gängen geschwind hinzurufen, und sie bleiben. Sie drücken Anrufe weg, sie legen endlose Denkpausen ein. Sie schweigen zu dritt bis der Erkenntnisgewinn einsetzt.
Im Land der gravierenden Diagnosen darf man seinen Partner zum Arzt mitbringen, Corona hin oder her. Man erhält zeitnah Folgetermine, auch nur zum Reden. Wenn man möchte. „Kommen Sie Montag, wir schieben Sie rein“.

Ins genannte Land reist man übrigens Last Minute. Sobald man erfährt, wo die Reise hingeht, ist man auch schon dort.

Und muss zurechtkommen. Zum 2020 absolvierten Freizeit-Facharzt in Virologie und Epidemiologie ohne vorangegangenes Grundstudium muss Frau Life Science nun einen Laiendoktor in Neonatologie und Kardiologie draufsatteln. Man lernt nie aus.

Der Blutkreislauf des Menschen und ganz besonders desselben wundersame Umgestaltung vom Leben im Mutterleib zum eigenständigen Atmen, der ganz konkrete Schaltwechsel auf Ebene der Rohrleitungen, automatisiert fertiggestellt binnen weniger Tage im frisch geschlüpften Menschlein, das ist ein Vorgang, der Frau Life Science in seiner komplexen Gelenktheit sprachlos macht, ohne dass sie das schon alles ganz verstanden hat. Nie hat sie sich damit näher beschäftigt – erst seit sie erfahren hat, dass das Wunder klemmt.

Faszination Leben. Faszination Medizin. Im Jahr 1929 schiebt sich der Arzt Werner Forßmann Stück für Stück einen Schlauch ins eigne Herz und fertigt in diesem Zustand auch noch eine Röntgenaufnahme von sich selbst an – als Beweis, dass man das Herz eines Menschen erreichen kann, ohne dass der Brustkorb aufgeschnitten wird. Eine solche Aktion muss man erstmal bringen! Die Sinnhaftigkeit des Ganzen war nicht gleich jedem klar: „Mit solchen Kunststückchen habilitiert man sich in einem Zirkus und nicht an einer anständigen deutschen Klinik!“, sagte der berühmte Chirurg Ferdinand Sauerbruch dazu. Doch mit diesem Kunststück erhielt Forßmann 1956 gemeinsam mit zwei amerikanischen Medizinern den Nobelpreis für Medizin. Er hatte den Herzkatheter erfunden.

Mit eben diesem preiswürdigen Zirkuskunststück, inzwischen längst ausgereifte Untersuchungs- und Therapiemethode der Wahl, wollen Mediziner im Jahr 2021 einem kleinen Forschernachwüchschen ein möglichst normales Leben ermöglichen. Wenn das gut geht – wie gehofft, erwartet, angestrebt – dürfen die Eltern künftig Jahr für Jahr in der Geburtstagswoche ihres zweiten Kindes nicht nur einen Kuchen backen.

„Kinderkriegen“, sagte eine kluge Frau, „ist nichts für Feiglinge“. Es ist dem nichts hinzuzufügen.

4 Gedanken zu “Freitagnachmittagsdiagnose

  1. Oh – das lese ich ja erst jetzt! Ich kann dir aber sagen, dass neonatale Ärzte, die ich bisher getroffen habe / treffen musste, die nettesten Ärzte waren, die ich so getroffen habe! Und die mit den meisten Kindern. Das fand ich unglaublich lebensbejahend. Da kümmern sie sich tagtäglich um die schwerkranken Babies und haben selbst so viele Kinder, obwohl sie tagtäglich sehen, was so ungeplantes passieren kann.
    Ich habe auch schon den letzten Beitrag gelesen. Und wünsche Euch für morgen das allerbeste! 🍀

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