Streberin im Aquarium?

Die Rainbows von gegenüber hatten die unsäglichen neuen Besuchsregelungen gar nicht mehr mitbekommen. Weder, dass Väter von einem auf den nächsten Tag kurzzeitig ausgesperrt wurden, noch dass sich Eltern ab dem übernächsten Tag zumindest mit den Besuchen abwechseln mussten. Es hätte die Rainbows hart getroffen. Denn sie wohnten quasi im Aquarium. Vier Wochen lang, bis zu ihrer Entlassung.

Die Rainbows waren immer auf ihrem Posten am linken Fenster. Wenn man zur 12:00 Uhr-Fütterungsrunde den Raum betrat, war ein Elternteil von denen stets schon im Dienst. Später kam das andere hinzu und eine zeitliche Überschneidung beider war auch nicht gerade selten. So etwas leisteten sich Herr und Frau Life Science nicht. Wenn Frau Life Science ging, dauerte es länger, bis der Lifescientist aufschlug, und er blieb auch kürzer.

Übertrieben die Rainbows? Oder wussten sie, ganz im Gegenteil, sehr genau, was sie taten? Keine Kasparine Hauser heranziehen? Das schlechte Gewissen war nicht weit, wenn Frau Life Science zum anderen Bettplatz hinübersah.

Nun kann man das ja gar nicht vergleichen, denn Familie Life Science hat ja noch ein anderes Kind zuhause, um das sie sich kümmern muss. Bei Rainbows war das ganz anders: sie hatten noch zwei. Für diese sorgte anscheinend zeitweise eine Freundin.

Wo kriegt man denn im Lockdown eine Freundin her, die ohne Kinder ist oder zumindest alleinerziehend, sodass sie (in Berlin) ihren Nachwuchs mitbringen darf? Und wer hat Zeit, einfach am Wochenende eine Schicht im anderen Haushalt zu fahren? Sollte auch nicht jeden Tag eine andere alleinerziehende Freundin sein, den sonst ist man schneller als einem lieb ist in Quarantäne. Und was sagen eigentlich die anderen Kinder dazu?

Die Rainbows machten auch sonst alles vorbildlich. Ihr Kind hatte bereits ein eigenes Mobile. Lackierte Holzfiguren, zarte Drechselarbeit, hygienisch und gut zu reinigen. Ideal für das Wärmebettchen. Am Bettchen hing des Weiteren eine Spieluhr, die Schwestern zogen abends am Schnürchen, wenn die Rainbows ausnahmsweise doch schon einmal weg waren – Guten Abend, gut Nacht… .

Überhaupt die Musik. Somewhere Over The Rainbow summte der Vater stets in allertiefstem Bass. Immer und immer wieder das Gleiche, denn Kinder brauchen Wiederholungen. Unnötig zu erwähnen, dass es sich gut anhörte. Familie Life Science hatte noch immer kein Lied für ihre Tochter ausgewählt, obwohl es die Musikpädagogin so empfohlen hatte, und hätten sie eines gehabt, und sich getraut es zu summen, wäre es den anderen Patientenkindern – nun ja – nicht unbedingt eine Bereicherung gewesen.

Die Rainbows nahmen ihr verkabeltes Kind auch selbst aus dem Wärmebett und legten es darin zurück, mussten sie einmal zur Toilette. Waren sie etwa vom Fach, oder wie waren sie an dieses Diplom fürs Kindherausnehmen gekommen? Würde Frau Life Science das selbst wollen? Eher nicht.

Zeit hat Frau Life Science ja immer genug im Aquarium, und sie machte sich so ihre Gedanken. Gedanken die, das muss an dieser Stelle gesagt werden, völlig idiotisch sind.

Denn wenn sie dann noch weiter dachte, lag es plötzlich auf der Hand:

Sie heißt nicht Rainbow.

Ihr Kind braucht kein Mobile, zumindest jetzt nicht, denn es pennt die ganze Zeit. Die paar Minuten, wo es guckt, sieht es genug interessante Schalter und Lichtchen.

Ja, Familie Life Science hat auch Spieluhren zuhause, aber sie wird jetzt nicht ihre gegen die von Little Miss Rainbow anlaufen lassen, zumindest solange die da sind. Soll das Herzmädchen doch nebenan mithören, dann ist es schon nicht so laut. Dasselbe gilt für „Somewhere Over The Rainbow“. Das wird für immer auch ihr Klinik-Lied sein. Herzmädchen soll es einfach mitbenutzen. Wann immer es im Radio läuft, wird Frau Life Science an ihr Herzmädchen denken und an die Zeit in der Klinik, denn so etwas vergisst man nicht.

Frau Life Science darf auch dem Impuls widerstehen, die Uhrzeit auf dem Milchfläschchen zurückzudatieren, um zu verschleiern, wenn sie ein Pumpintervall verschlafen hat. Selbst wenn jemand je ihre Pumpzeiten kontrollieren würde, sei es die Milchküche oder die Stillberaterin Elena, wem will Frau Life Science denn hier etwas beweisen?

Wenn Frau Life Science einmal später ins Krankenhaus kommt oder kürzer bleibt, muss sie ihre Abwesenheit nicht lückenlos den Schwestern erklären. Spart sie doch lediglich ihre kostbare Energie, die sie zu anderen Zeiten dann zur Verfügung haben wird. Es ist hier ja wie bei Corona: kein Sprint, sondern ein Marathon.

Sie ist niemandem verpflichtet. Weder den Rainbows, noch den Krankenschwestern oder den Ärzten. Auch nicht Freunden oder Bekannten, die sich wundern, dass Frau Life Science in einer Fernbeziehung mit ihrem Neugeborenen lebt und deswegen nicht zuhause weint, sondern im Rewe Apfelsaft kauft.

Sie ist nur einem einzigen verpflichtet, und das ist ihr Kind. Und wenn sie ganz tief in sich hineinhört und prüft, ob da irgendetwas ist, weswegen sie aktuell ein schlechtes Gewissen haben müsste, wird sie nicht fündig.

Etwas Größeres als ein Ja kann man seinem Kind nicht geben. Und wenn das Herzmädchen das hat, was soll dann nicht in Ordnung sein?

Somewhere Over the Rainbow…

4 Gedanken zu “Streberin im Aquarium?

  1. „Sie ist niemandem verpflichtet. Weder den Rainbows, noch den Krankenschwestern oder den Ärzten. Auch nicht Freunden oder Bekannten, die sich wundern, dass Frau Life Science in einer Fernbeziehung mit ihrem Neugeborenen lebt und deswegen nicht zuhause weint, sondern im Rewe Apfelsaft kauft.“

    Und genau deswegen ist das Herzmädchen zu Euch gekommen; hat Euch als Eltern ausgesucht. Weil Ihr, trotz aller Umstände, stark seid. Weil Du weißt, wie Du Deine Kräfte bündelst und für sie da bist, für sie kämpfst; dazu musst Du nicht 24 Stunden am Tag vor Ort sein. Du „funktionierst“, gehst einkaufen, betreust den Forschernachwuchs…

    Und wenn dann doch mal Tränen fließen, gehört auch das dazu. Denn der Weg ist nicht leicht. Und trotzdem werdet Ihr ihn gehen und für das Herzmädchen die besten Eltern sein.

    Fühl Dich gedrückt.

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  2. Frau Life Science macht das genau richtig auf ihrem Weg. Und die Rainbows machen es richtig auf ihrem Weg. Wenn Zweifel kommen, dann auf die eigenen beiden Füße gucken und dann dem Herzen nachspüren. Und wenn es sich dann richtig anfühlt, dann ist es gut. Genauso, wie Du es gemacht hast. Ist auch ein gutes Training für die Einschulung und alles was da noch so kommt und Kontakt und somit Vergleich mit anderen Eltern bringt 😏.
    Ich habe auch immer im Aquarium gesungen. Das Lied vom Bär im blauen Haus. Aber ich möchte nicht wissen, wie jemand meine Stimme beschreiben würde…
    Es gibt von der BBC eine Dokumentation „Kinder unserer Zeit“. Dort wurden einige Kinder, die 2000 geboren wurden, bis zum Erwachsenwerden begleitet. Es gab natürlich auch Kinder, die nach der Geburt neo-intensiv aufgenommen werden mussten. Als sie Kindergartenkinder waren, nahm man sowohl diese Kinder als auch eine Vergleichsgruppe mit auf eine piepende und blinkende Intensivstation. Die Kinder, die als Baby nicht intensiv aufgenommen worden waren, waren zurückhaltender und ängstlicher. Mich hat das irgendwie positiv gestimmt, dass mit Zuwendung und guter Schmerztherapie auch das Piepen und Blinken eine positive Verknüpfung bringt. Dafür gibt es später auch ganz viel elektronische Spielzeugauswahl, um daran anzuknüpfen. Ach Herrje, gerade fällt mir auf, warum der Große so ein Gamer geworden sein könnte 🙈😱.

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  3. Ich find ganz wunderbar, wie Du das machst, das alles. Schon immer und jetzt sogar ein bisschen mehr. Und: Allerherzlichsten Glückwunsch zu eurer Mitbewohnerin! Und2: Alles wird gut. Immer. Deine Rike ❤ (mit Herz, für Dich, das Herzmädchen, Euch alle vier)

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