Willkommen in Schildistan

Auf dem vergessenen Stückchen Erde am Rande der Laubengartenkolonie, das keiner bewirtschaftet und das in Zeiten knapper Anwohnerparkplätze den Bewohnern der Straße als willkommener Privatparkplatz dient, wurden einer Nachbarin beide Kennzeichen entwendet. Für das Auto an sich hatten die Diebe anscheinend keine Verwendung.

Arme Nachbarin. Was sind das denn für Menschen, die andern einfach die Kennzeichen klauen?

Es sind solche Menschen, die es am nächsten Tag wieder tun, und darum hatte Familie Life Science bald auch keine Nummernschilder mehr.

Während ihre Schilder nun auf irgendeinem fremdem Auto herumfahren und Benzinklau, Autoschieberei oder was auch immer unter Frau Life Sciences guten Namen ermöglichen, benötigte Familie Life Science dringend Ersatz.

Zeitfressende Aufgaben, die mit viel Wartezeit und Unproduktivität eingehen, und für die am Ende kein „Paper“ rausspringen, höchstens nen Blogpost, sind das Ressort von Frau Life Science in Elternzeit mit schlafendem Herzmädchen.

Ohne amtliches Kennzeichen ist ein PKW zwar kein legales, in Zeiten der Pandemie aber immer noch das sicherste Verkehrsmittel. Daher entschied Frau Life Science, ganz ohne amtliche Kennzeichen nach Kreuzberg zur Zulassungsstelle zu fahren. Und wenn man schon im Auto ist, kann man auch gleich den Forschernachwuchs im Kindergarten absetzen. Liegt ja quasi auf dem Weg. Also, wenn man da lang fährt.

Die Leute glotzen. Man fühlt sich durch und durch illegal. Wobei ein fehlendes Kennzeichen nicht zwingend bedeutet, dass man zu den Leuten gehört, die etwas auf dem Kerbholz haben; vielleicht eher im Gegenteil, denn Letztere haben ja meist ein Schild, das von Familie Life Science zum Beispiel.

Vor der Zulassungsstelle parkte Frau Life Science meilenweit entfernt an der Straße, nicht ahnend, dass man im Hof des Gebäudes kostenlose Parkplätze hätte nutzen können. Noch weniger ahnte sie, dass sie vorab einen Termin benötigt hätte. Wie naiv von ihr, zu denken, dass man als braver Bürger ein fehlendes Kennzeichen ohne Verzug zu ersetzen versucht, Gehen Sie nicht über LOS – Aber vereinbaren Sie zuerst einen Termin.

Musste sie jetzt ohne Kennzeichen nach Hause und ohne Kennzeichen nochmal her? „Schreiben Sie mal schnell eine Mail“, riet der Portier. Auch bedauerte der den Schilderdiebstahl, der soundsovielte sei es diese Woche schon. Das komme von den offenen Grenzen, erläuterte er mit osteuropäischem Akzent.

Glücklicherweise klappte es noch mit dem Termin. In eineinhalb Stunden schon! Bis dahin war Zeit für Sozialstudien in der Sonne am Bauzaun lehnend, statt Strassencafe, das war schön, man erlebt ja sonst nix in der Pandemie. Herumspazieren wäre zu anstrengend gewesen, hatte Frau Life Science doch heute ihr Tragetuch bzw. den Kinderwagen vergessen und das Herzmädchen ist in den letzten Wochen nicht leichter geworden.

Nach einiger Zeit unterhaltsamen Wartens (ein erfrischender Querschnitt der Berliner Bevölkerung ist auf dieses Amt angewiesen) entschied sich Frau Life Science, doch besser das Auto herzuholen.

Als sie gerade ins nicht gekennzeichnete Fahrzeug stieg, sah sie auf der Straßenseite einen Polizisten, oh Nein. Aus einem Mietshaus, in dessen Nähe er stand, kam zugleich ein Kreuzberger Catweazle, der zielgerichtet die Straße überquerte, auf Frau Life Science zusteuerte, lächelte und ihr bedeutete, die Scheibe herunterzulassen. Er setze einen bedeutungsvollen Blick auf und sagte:

„Dir fehlt das Kennzeichen vorne.“

„Hinten auch!”, sagte Frau Life Science.

„So darfste nicht fahren“, warnte der Herr.

Ja, sagte Frau Life Science, und dass da auch noch die Polizei… Catweazle drehte sich kurz um fuhr sich dann durch sein zotteliges Haar. Da wusste er jetzt auch keinen Rat.

Es blieb Frau Life Science nichts andres übrig, als ohne Kennzeichen am Polizisten vorbeizufahren. Es klappte.

Schließlich nahm sie ihren Termin wahr, der sie eigentlich erstmal nur zum Warten berechtigte. Der Ablauf auf dem Amt ist übrigens skurril: der Sachbearbeiter teilt eine neue Autonummer zu, dann muss diese aushäusig in ein Schild geprägt werden, das Schild benötigt anschließend aber noch Plaketten vom selben Sachbearbeiter. Deshalb muss man, ungewöhnlich genug, inmitten des Amtstermins das Gebäude verlassen, um sich seine zwei Bleche auf dem freien Markt zu organisieren.

Man verlässt hierzu den Hof – und in kultureller Hinsicht Deutschland – und gelangt nach Schildistan. Ein ganzer Straßenzug von Baracken grenzt an das Amtsgebäude, wo alle dieselbe Dienstleistung anbieten, nur der Preis steht nirgends. Man fühlt sich wie ein Tourist einem fernen, sehr einfachen Land und man hat das Gefühl, bald einen Teppich verkauft zu bekommen oder zu einer fragwürdigen Bootsfahrt genötigt zu werden.

Sobald Frau Life Science auf die Straße getreten war, wurde sie sofort von einem windigen Händler angesprochen. Sie war offenbar auf sein Territorium geraten und gehörte jetzt ihm. Wegen ihres Kindes unterm Arm mache er ihr heute einen Sonderpreis….

Gut, dass der Beamte von drüben sie schon verschlüsselt vorgewarnt hatte und der Portier mit dem osteuropäischen Akzent ihr die ungeschriebene Preis-Obergrenze durchgestochen hatte, während er den Finger auf den Mund gelegt und „Von mir wissen sie es nicht“ geraunt hatte.

Dank ihres Wissensvorsprungs gelang es Frau Life Science, einen halbwegs realistischen Preis für die Dienstleistung auszuhandeln. Der Herr log das Blaue vom Himmel, weswegen er zunächst einen Fantasiepreis aufgerufen hätte und fragte nach dem Baby. „Junge oder Mädchen…? – Hauptsache, es ist gesund!“

Ist klar…

Ein anderer Mann verschwand derweil mit dem ausgedruckten Beleg vom Amt in seiner Baracke und kehrte mit dem frisch geprägten Schild zurück: B-FH-1521.

Da merkte Frau Life Science, dass ihr Bargeld ja gar nicht mehr reichte, und Kartenzahlung ist ja nun nicht in Schildistan.

Der Herr empfahl ihr den Geldautomaten, der sinnigerweise am anderen Ende der Barackenstrasse angebracht war, und fragte, ob er so lange aufs Kind aufpassen solle.

„Au ja!“, sagte Frau Life Science und reichte ihm die Babyschale. Aus ihrer Sicht konnte es keine besseren Babysitter geben als ein Mitglied der Kreuzberger Schildermafia. (Quatsch, es entwich ihr ein „NEIN!!!!!“ und sie taumelte mit der viel zu schweren Tragschale davon.)

Der Geldautomat war aber kaputt und ein weiterer Händler top-seriösen Aussehens, dem die andere Straßenecke „gehörte“, empfahl ihr einen ganz unten an der Ecke. Mist, Da musste sie sich jetzt auch noch hinschleppen.

Ob sie doch das Kind bei dem freundlichen Herrn…? Nächstes Mal doch besser ans Tragetuch denken!

Mit den bar bezahlten Schildern hinter Front- und Heckscheibe fuhr Frau Life Science nach Hause zurück. Es war ein schöner Ausflug in der Pandemie. Endlich mal wieder etwas „erlebt“ und irgendwo „gewesen“.

2 Gedanken zu “Willkommen in Schildistan

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