Wagnis Familienerweiterung

Frau Life Science wusste lange nicht sicher, ob sie aus dieser Klinik, in der sie mit wechselnden Bauchzuständen monatelang aus- und einging, jemals ein lebendes Baby heraustragen würde, aber es war so: An einem eisigen Tag, mitten in der zweiten Welle der Pandemie, nahm sie das Kind aus der Klinik hinaus ins Berliner Schneegestöber und nach Hause. Da war es, dieses tagnachttiefschlafende Wesen, mit dem man besser keine Pläne machte.

Die Schwerbehinderung ist inzwischen amtlich, eine grün-rosa Plastikkarte als Beweis kam mit der Post. Aber das Herzmädchen kann noch gar nicht lesen und weiß auch gar nicht, wie man sich dem Befund entsprechend zu verhalten hat. Sie ist daher ganz normal.

Oder nein, sie ist überhaupt nicht normal. Sie ist übermäßig lustig und kontaktfreudig. Ein Positivitätsbündel. Sie sollten sie mal sehen!

Und dann auch noch so niedlich. Ich will sie küssen, schreit der Forschernachwuchs mehrmals täglich und dann müssen schnell irgendwelche Körperteile freigelegt werden, Wangen, Händchen oder der Kugelbauch.

Nach ein paar Monaten gewissenhaftem Matratzenhorchdienst hat sie jetzt auch mal ausgeschlafen. Umsonst Sorgen gemacht, dass das so bleiben könnte mit dem Tiefschlaf. Ihr gut gepolsterter Windelpo wackelt munter durch die Wohnung, unermüdlich auf der Suche nach neuen Abenteuern. Eine pinke Haarspange ziert das Gesichtchen, und in der Hand hält sie ein Pinguinschnuller, den sie sich mit geübtem Griff aus dem Mund hinaus- und wieder hineinschraubt. Dabei immer wieder Juchzen und Johlen.

Keiner weiß, ob der gesundheitliche Zustand immer so gut bleibt oder wie lange. Wegen irgendwas müssen sie die grün-rosa Karte mit den vielen Prozenten ja bekommen haben.

Das heißt, möglichst die Zeit voll auskosten. Jede Sekunde genießen.

Aber das ist ja die Crux. Dass das gar nicht geht. Frau Life Science nennt es das Kinder-Glücks-Paradoxon. Mit mehr Zeit wird das Glück nicht größer. Weil Kinder keine Aktien sind, die mehr Glücksdividende ausschütten, je ununterbrochener man mit ihnen zusammen ist. Wie bei allen Dingen des Lebens gibt es eine Sättigungsgrenze. Das Mass ist jenseits von 24/7 irgendwann voll. Beim einen früher, beim anderen später.

Früher bei Frau Life Science. Sie findet ihre eigenen Kinder einfach NOCH toller, wenn sie sie mit anderen teilen kann. Soll sie Ihnen ein Geheimnis verraten? Am liebsten hätte sie ja noch ein Drittes. Nocheinsnocheins flüstern ihr nämlich neuerdings irgendwelche Hormone ins Ohr; und wäre sie so verrückt darauf zu hören, würde sie bei Eintreffen desselben bestimmt als Erstes überlegen, wo sie es baldmöglichst abladen könnte.

Ne kleine Macke hat doch jeder.

Apropos Macke: Derzeit versucht Frau Life Science – trotz Elternzeit – wenigstens ein bisschen zu zu erwerbsarbeiten. Wozu hat der Lifescientist flexible Arbeitszeiten? Es bleibt ihm überlassen, wann er seine drölfzig Stunden ableistet (genau genommen auch ob). Also kann er jederzeit tagsüber auch mal das Kind betreuen. Macht er natürlich gerne und übrigens sehr gut. Das Herzmädchen rastet regelmäßig aus, wenn die Übergabe bevorsteht.

Sie hatten das abgesprochen mit der Familienorganisation. Die Idee war gut, der Stundenplan von Frau Lehrerin aber unterirdisch, und da sah sich Frau Life Science nach einigen Wochen gezwungen, Unterstützung zu organisieren. Wo ein Wille ist, da ist ein Weg. Und wo keine Oma ist, muss man sich eine suchen.

Seitdem haben sie eine angemeldete, versicherte und bezahlte Oma namens Cordelia – und wer SO heißt, den muss man als Herzmädchenmutter einfach einstellen.

Und sie haben frischen Spinat, selbstgezogenen Spaghettikürbis aus der Gartenkolonie, Wind- und Sturmwarnungen aufs Handy und Empfehlungen zur kindlichen Schlafhygiene.

Vor allem aber haben sie: Betreuung. Die Eingewöhnung ist abgeschlossen und es flutscht. Baby in die Hand drücken, winken, und Tschüss. Kein Weinen, keine Sorgen, kein Unwohlsein – weder bei der Mutter noch beim Kind.

Statt dessen: Das gute Gefühl, dem Herzmädchen Extras zu ermöglichen: Eine weitere Vertrauensperson, ein anderer Blickwinkel, andere Impulse, andere Liedchen. Ein anderer Haushalt (manchmal). Eine Katze. Viel, viel Zuwendung.

Für Frau Life Science heißt das: Sich an der Tochter noch mehr freuen, Geteilte Freude, doppelte Freude.

Das Gefühl gut aufgestellt zu sein. Jetzt wieder Dienstreise, Lifescientist? Ja, mach doch. Kein Ding!

Gerade sind Schulferien und Cordelia ist trotzdem im Einsatz. Macht sogar unbezahlte Überstunden, um nach dem ausgiebigen Frischluftnickerchen des Herzmädchens noch genügend Zeit zum Spielen zu haben. Dienst nach Vorschrift ist Cordelias Sache nicht; schon eher die zweite Meile.

Und, was macht Frau Life Science mit der gewonnenen Zeit? Geht sie ins Nagelstudio? Terminiert sie Wohlfühlmassage? Natürlich erledigt sie – auch wenn das Genannte auch völlig ok wäre – meist Dinge für die Kinder. Aber ohne Kinder. Ohne ständige

Unterbrechung. In einer Gesellschaft, in der Autos, Roller, Schreibtische und Unterkünfte zunehmend geshared werden, empfiehlt Frau Life Science dringend das Sharen des eigenen Nachwuches. Polizeiliches Führungszeugnis vorlegen lassen und los geht’s!

Die „Leih-Oma“ (so viele Jahre liegen aber ehrlich gesagt nicht zwischen Frau Life Science und Cordelia) scheint jedenfalls ein Erfolgsmodell. Das Zusammenführen der Generationen: der eine hat, was der andere braucht – und umgekehrt. Win-Win. Mit einem Hauch von Utopie.

Frau Life Science will nicht mehr zurück. Sie hat ein bisschen Angst, das gewagte Konstrukt der Familienerweiterung könnte ins Wanken geraten. Die monatliche Überweisung ist ja nicht das einzige Zahlungsmittel. Hin und her geschickt werden auch Vertrauen, Sympathie, gegenseitiger Respekt. Nähe. Offenlegen aller Privatheit. Das Annehmen der jeweiligen Ecken und Kanten. Das kann gelingen, aber auch krachend scheitern.

Ein volles Ja zu diesem Wagnis!

„Bitte das Beet abräumen und alles mitnehmen“, sagt Cordelia.

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