Zweiraumwohnung

Familie Life Science hält sich eine kleine Ferienwohnung im Elternhaus. Weil Corona, und weil das Reisen mit zwei Kindern beschwerlich geworden ist, stand diese Wohnung die meiste Zeit leer. Es ist eine kleine irrationale Herzensangelegenheit, ein Luxus, den sie sich finanziell einigermaßen, doch nun ethisch nicht mehr leisten können – im März 2022. Nicht, wenn das Telefon klingelt und aus der ukrainisch-deutschen Nachbarschaft für eine flüchtende Familie angefragt wird.

Aber wir wollten doch Ostern dort Urlaub machen.
Aber es ist doch gar nichts vorbereitet.
Aber da steht doch unser ganzes privates Zeug rum.
Aber das kann man den Großeltern doch nicht zumuten.
Aber wir kennen die Leute doch gar nicht.
Aber woher wissen wir, dass die irgendwann etwas eigenes finden?
Aber wer zahlt die Kosten, wenn das länger dauert?

So viele Abers kann man nur haben, wenn man selber kein Krieg im Land hat.

Familie Life Science eiert ein paar Stunden rum. Aber sie kann nicht andres und sagt zu. Zumal die Großeltern – und ohne die geht es nicht – einverstanden sind.

Statt der angekündigten Familie ist nun plötzlich eine andere im Gespräch, während dem ganzen Rumeinern hat Kataryna, die entfernte Nachbarin, die Erstfamilie schon längst woanders untergebracht. Kataryna ist ein Phänomen.

Es kommen jetzt also andere Leute, zu denen es noch weniger Eckdaten gibt, und mit dem Alter der Kinder ist Frau Life Science jetzt auch schon durcheinander gekommen.

Frau Life Science raucht der Kopf. Wie soll das gehen. Wer räumt das Zeug weg. Wo waschen die? Bei Muttern geht es nicht, die Maschine hat einen äußeren Defekt, nur speziell eingeweihte Personen können unter der sachgerechten Anwendung eines Schraubenziehers an die gewaschene Wäsche gelangen.

Wann kommen sie überhaupt.

Rauchen die?

Ob die Englisch können?

Da sind noch die zwei Töpfe in der Kochecke, wo am letzten Abschiedsabend das Popcorn auf dem Lagerfeuer völlig eingeschmort ist. Hat Muttern noch ein zwei Töpfe übrig? In den letzten Jahren halten die Großeltern nur noch die Gegenstände vor, die sie wirklich brauchen.

Mehrfach verschiebt sich die Ankunftszeit der Gastfamilie. Nun sagt Kataryna, die kämen in der Nacht.

Kataryna, das geht leider nicht. Die Achtzigjährigen können nicht nachts auf die Ankunft einer Flüchtlingsfamilie warten. Frau Life Science sieht Muttern schon nachts um Zwei Kartoffeln aufsetzen oder so etwas. Ok, sagt Katharyna blitzschnell, die bleiben die erste Nacht bei uns. In ihrem privaten Hilfszentrum ist tatsächlich gerade ein Zimmer frei.

Sie kommen in der Nacht gar nicht. Und gerichtet ist immer noch nichts.

Dem Senior des Hauses geht langsam die Geduld aus und er fährt für seine Besorgungen ins Städtle. Jetzt ist keiner zuhause. Just in dem Moment trifft Kataryna und ihre ukrainische Assistentin zum Vorbereiten ein. Auch so ein Aber: Kataryna, es geht nur, wenn du die Wohnung selbst vorbereitest. Wegen allgemeiner Überlastung ihrer Ein-Personen-Humanitären-Hilfsorganisation hatte sie nämlich vorgeschlagen, die geflüchtete Frau solle einfach selber schnell das Zeug irgendwie wegräumen und schauen, ob sie irgendwie klarkommt.

Frau Life Science lotst Kataryna ans geheime Hausschlüsselversteck; so kann sie in die Wohnung gelangen. Dass plötzlich jemand Fremdes im eigenen Haus ist, wenn der Senior aus dem Städtle zurückkehrt, gehört zu den allgemeinen Zumutungen an Flexibilität und Vertrauen, die im genannten Haus nicht erst seit der Flüchtlingssituation bestehen. Auf dem Handy erreichen und mal schnell Vorwarnen ist nicht bei Seniors. Die Kommunikationskanäle sind ganz andere.

Während Frau Life Science Katarynas hektische Sprachnachrichten abhört und beantwortet, versenkt das Herzmädchen schon wieder den Schnuller im Putzeimer. Seit Monaten kriegt Frau LIfe Science nichts mehr geschafft mit der Kleinen, jetzt muss sie auch noch dauernd telefonieren. Sich in eine derartige Hilfsaktion auf irgendeiner Handlungsebene verwickeln zu lassen, kann Frau Life Science nicht wirklich weiterempfehlen.

Noch weniger empfehlen kann sie allerdings, es nicht zu tun.

Es geht dann doch noch alles gut. Als die Senioren spätabends noch eine Steppdecke nach unten legen wollen, sind die Leute schon längst geräuschlos eingezogen. Eine Juristin und ein Koch, berichtet der Senior. Frau Life Science denkt an die verschmorten Töpfe.

Jetzt kann man nur noch auf gutes Gelingen hoffen. Dass sich alles irgendwie findet. Dass es einen Weg gibt. Und sich die Leute zwischen den vergilbten Kinderbildern und den Life Science Leitz-Ordnern irgendwie wohlfühlen.

Was heißt wohlfühlen.

Was es heißen mag, sein Zuhause zurückzulassen, wahrscheinlich für immer, seinen gesellschaftlichen Status zu verlieren, seine Selbstbestimmung, abhängig zu sein von Fremden, und nicht im Geringsten zu wissen, was die Zukunft bringt.

Frau Life Science kann und möchte sich das nicht vorstellen.

Ein Gedanke zu “Zweiraumwohnung

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