Unterversorgt

Familie Life Science hat nichts ahnend mehr Nachwuchs bekommen als es die kinderärztliche Kapazität aktuell zulässt. Es sind genau zwei Kinder mehr als derzeit versorgt werden können, nämlich gar keines.

Nun ist es in Familie Life Sciences Berliner Karriere schon die zweite pädiatrische Arztpraxis, die mittels Aushang an der Außentür das allgemeine Nichtmehrbehandeln der Kundschaft bekannt gibt, bei der ersten war’s für immer, bei der letzten auf unbestimmte Zeit.

Das war‘s dann mit dem lange geplanten Impftermin. Die Bandansage „Wir haben leider wegen krankheitsbedingtem Ausfall des gesamten Teams bis auf Weiteres geschlossen…“ geht nun in die 4. Woche. Frau Life Science kann den Ansagetext, inklusive Atempausen der Ärztin auswendig vorbeten. Dass sie Termine nicht persönlich absagen können, dass es ihnen leid tut, und dass sie nicht wissen, wie es weitergeht. Eine alternative Arztpraxis wird nicht genannt. Wer sollte da auch vertreten? Dies geschieht ja sonst im gegenseitigen Austausch.

Dummerweise hatte die Ärztin noch die beiden Impfbücher der Kinder. Wegen ADHS der Mutter, hatte Frau Life Science sie bis zum geplanten Impftermin in der Praxis hinterlegt. Sie leidet unter der Schwäche, zu fast jedem Impftermin ohne Impfbuch (und zu jeder U-Untersuchung ohne U-Heft) zu erscheinen.

Familie Life Science in Gestalt der Mental Load-Beauftragten Frau Life Science hatte also nicht nur die mühsame Aufgabe, einen alternativen (Kinder)arzt fürs Impfen zu finden, weswegen sie sich von Dr. Pontius zu Dr. Pilatus durchtelefonierte, sondern stand auch vor der Schwierigkeit, an die Impfbüchlein zu gelangen, um stattgehabte für erforderliche nachfolgende Vakkzinierungen nachzuweisen.

Gerettet hat sie bei letzterem Problem ein Fax. Mit ihrem privaten Faxaccount (nützlicher als man denkt), hat sie die stillgelegte Kinderarztpraxis kontaktiert. Email oder so etwas gibt es da nicht und bei Anruf kam nur die bekannte Ansage.

Die Tatsache, dass wenige Tage später in einem großen Umschlag zwei durchkopierte Impfhefte im häuslichen Briefkasten lagen (ohne beiliegenden Kommentar) zeigt, dass der Arztpraxis die Patienten keineswegs egal sind. Man hatte sich immerhin die Mühe gemacht, alles zu kopieren, damit die Originale nicht auf dem Postweg verloren gehen konnten, und es abgeschickt. Und man ging offenbar davon aus, dass man die Original-Dokumente irgendwann persönlich aushändigen kann. Das ist schon mal beruhigend.

Auch ein Ersatz-Impftermin tat sich auf, bei einer anderen Kinderärztin – via online-Resterampe. Am Tag vor seiner Wahrnehmung wurde er jedoch kommentarlos abgesagt.

Langsam wurde es zeitlich eng. Das Herzmädchen wird bald zwei und ihr Masernschutz ist noch nicht vollständig. Das bedeutet im schlimmsten Fall: keine Kinderbetreuung. Dass also das Kind quietschgesund zuhause rumflitzt, aber ein Elternteil nicht arbeiten gehen kann, aufgrund Betreuungsverbot durch geltende Rechtslage im der Kita.

Da kann man sich nicht einmal kinderkrank melden, denn krank ist das Kind ja nicht (jedoch könnte man das im Falle von tatsächlicher Krankheit auch nicht, weil entsprechende Bescheinigungen nicht von flächendeckend gestreuten Trampolinzentren und Kletterburgen ausgestellt werden, sondern eben gerade von den nicht verfügbaren Kinderärzten).

Auf der Online-Resterampe waren nach der Ansage nur noch zeitnah Termine bei einem ganz speziellen Arzt verfügbar: Herzmädchens allererstem Kinderarzt, der mit dem kardiologischen Schwerpunkt. Vor diesem waren sie vor zwei Jahren geflüchtet, weil er einfach nicht sprach. Frau Life Science weiß noch, wie sie damals seit wenigen Tagen erst das Baby aus der Klinik nach Hause bekommen hatte und voller Sorgen und Ungewissheit und mit vielen unausgesprochenen Fragen beim genannten Arzt zur vorgeschriebenen Untersuchung vorstellig wurde, sogar mit U-Heft. Die Praxis hatte einen guten Ruf, der den genannten Kollegen jedoch nicht einschloss. Aber das erfuhr sie erst später.

Sie weiß noch, wie sie an einem frühen Winterabend auf diesen nicht sprechenden Arzt traf und wie sie nach abgewickelter Untersuchung im Hinterhof der Praxis durch den Berliner Schnee schlurfte, mit der Babyschale unterm Arm, und wie die gedämpfte Stille nur der am Baby festgepappte Überwachungscomputer mit seinem beharrlichen Piepsen durchbrach.

Piiieeeep piiiep piiiep.

„Da bist du jetzt mit deinem kranken Kind“, dachte Frau Life Science und der Doktor hilft dir auch nicht.“

Piiieeeep piiiep piiiep.

Herzmädchen war dann bei einem anderen, gesprächigeren Kinderkardiologen untergekommen, der aber nur „Herz“ machte, und nicht „Kind“. Für „Kind“ an sich waren sie nach wie vor auf einen anderen Arzt angewiesen und landeten schließlich bei der nun vorübergehend? pausierende Praxis, für die die nun Ersatz suchen.

Weil das Herzmädchen nun schon einmal versehentlich beim schweigenden Doktor in Behandlung war, darf sie nun ebenda einen Impftermin wahrnehmen. Der große Bruder, dessen Tetanus-Auffrischung auch überfällig wäre, der aber noch nie bei Mr. Schweigefuchs vorstellig geworden ist, darf keinen Impftermin dort erhalten. So will es die Regel – keine Erstpatienten.

Ein Glücksfall also, dass das Herzmädchen noch im PC des Doktors aufgeführt ist. Jetzt muss der Termin nur noch klappen. Da darf kein Fieber und so etwas um die Ecke kommen. Weder beim behandelnden Arzt noch beim Impfling. Sonst geht die Suche von vorne los.

Ein längeres Gespräch ist zum Impfen glücklicherweise nicht erforderlich. Die Sorgen von damals sind, wie man merkt, ohnehin andere geworden.

Und das ist das ist die eigentlich gute Geschichte.

2 Gedanken zu “Unterversorgt

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