„E“

„Ja, Frau Life Science“, erklärte die Stationsärztin, „nun wird noch das neue Medikament eindosiert, und wenn wir das OK von den Kardiologen haben, dann haben wir Freitag die E.“ Was ist denn E ?, fragte Frau Life Science. „Ach so, Entlassung. Schulligung“, sagte die Ärztin.

Die E hatte ja schon Anfang der Woche sein sollen – geschenkt! Dann eben am Freitag.

Es wurde Sonntag daraus. Fragen Sie nicht. Das war der Tag, an dem im Radio geraten wurde, das Haus nicht zu verlassen wegen Wintereinbruchs. Herzmädchenwetter.

An der Klinik-Pforte wurde Familie Life Science am Sonntag samt Auto durchgewunken, sie mussten nicht einmal die Scheibe runterlassen. Keiner wollte die für den heutigen Tag einmalig ausgestellte Zufahrtsberechtigung sehen.

Während Lifescientist und Forschernachwuchs im Auto auf die Familienzusammenführung warten wollten, ging Frau Life Science alleine auf die Station. Der Kindsvater hätte zwar heute mit nach oben kommen dürfen, der Bruder jedoch nicht.

Vor den Aufzügen war schon wieder der Vater vom anderen Bettplatz auf seinem Posten. Hier würde er wohl noch ein paar Wochen mit zunehmend rauswachsender Frisur sitzen, denn sein Kind wog zurzeit nur etwas mehr als halb so viel wie das Herzmädchen. Aber auch seine Zeit würde irgendwann kommen.

Im Aufzug die Täfelchen mit den Stockwerksnummern. Hinter fast jedem verbarg sich ein Ort, den Frau Life Science inzwischen nur zu gut kannte: Die Schwangeren-Beratung bei Dr. Heiterweiter, die Frau Life Science seit der Diagnosestellung im November immer mittwochs konsultiert hatte, um sich den Wochensegen abzuholen: wieder 7 Tage frei rumlaufen und Kind im Bauch behalten… Die Geburtsabteilung, die sie zweimal für den gleichen Kaiserschnitt aufgesucht hatte… die Wöchnerinnenstation, deren Besuchsregel sie fünf Tage vom großen Kind getrennt hatte, was Letzteres überraschenderweise unbeschadet überlebte… die standesamtliche Meldestelle, auf der sie wegen fünf übersichtlich aufgelisteten Dokumenten dreimal erscheinen musste, bis sie diese vollständig vorgelegt hatte (Macht doch nichts, Frau Life Science, bleiben Sie ganz ruhig!)… das erste und das zweite Aquarium… die Kardiologie… und die Milchküche, wo eine absurde Menge sauber etikettierten TK-Vanilleshakes gebunkert war, denn die ärztlich zugelassene Trinkmenge des Herzmädchens korrespondierte schon lange nicht mehr mit der laufenden Produktion.

Was hatte sie unter all den blanken Nummern nicht alles erlebt die letzten Wochen! So manches hätte besser ablaufen können. Und doch ist Frau Life Science niemandem wirklich böse. Das scheint so etwas wie ein neonatologisches Stockholm-Syndrom zu sein: Sie sympathisiert mit allen, mit denen sie hier zu tun hatte. Und waren die Besuchsregeln noch so desolat, die Kommunikation noch so chaotisch und die Abläufe noch so holprig.

Wer sonst hätte ihr mit dem Herzmädchen helfen können?

Da stand sie nun im Aquarium. Mit Babyschale, erster eigener Mädchenkleidung in mehrfacher Ausführung, falls etwas nicht passen oder nass werden sollte, einer Kühltasche für mehrere Liter abzuholende Milch, einer Grußkarte für die Schwestern mit Kaffeekassenzuschuss und Bildchen zum Aufhängen in der Gallery of Hope.

War das ein Abschied auf Raten? Waren sie wirklich das letzte Mal hier?


Die Schwestern packten noch eine gewaltige Tüte mit Windeln, Salben, Spritzen und sonstigem Herzmädchen-Zubehör ein, ehe sie es aus hygienischen Gründen weggeschmissen hätten, der Bildschirm musste angeschlossen und das Baby in die Transportschale gepackt werden, und dann wusste Frau Life Science überhaupt nicht mehr, wie sie das alles noch transportieren sollte: Baby, Bildschirm Tasche und Tüten. Wenigstens blieb die Kühltasche leer, denn die Milchküche hatte heute schon zu und Frau Life Science würde bei anderer Gelegenheit zum Abholen kommen müssen.

Eine hilfreiche Schwester begleitete sie kurzärmelig bis zum Auto, in dem der Lifescientist und der Forschernachwuchs schon fast zwei Stunden gewartet hatten. So eine E war eben keine Sache von 20 Minuten. Schon gar nicht in diesem Haus.

Frau Life Science packte die Babyschale auf den Rücksitz. Fast wäre es ihr vor lauter Schnee und Wind, vor lauter Bildschirm, Anschnallen und Tschüs sagen noch entgangen: das breite Grinsen, das übers Gesicht des Bruders huschte. Das Herzmädchen! Er hatte es erkannt.

Heute keine Zeit für Kerzen in der Klinikkapelle

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