Verlorene Schulklasse

Schon wieder war eine Andacht fällig. Das heißt, die Klasse bereitet quasi projektartig einen Kurzgottesdienst für ihre Mitschüler vor, für so 200 Kinder. Paar Kollegen und die Schulleitung schauen zu, also kaum der Rede wert, wenn es nicht ganz so klappt.

Mit dabei sind 26 Zehnjährige, ein Cello und eine Trompete, eine Musiklehrerin und noch eine Musiklehrerin, ein Technikschlüssel, zwei Oberstufenschüler für die Tontechnik, ein Spaten, ein Kilo Reis, ein paar Klamotten, römische Schwerter, Helme und Uniformen, Schoten des Johannisbrotbaumes, dreierlei digitale und analoge Raumpläne für die Aula, und natürlich Frau Life Science, mit all ihren Möglichkeiten und Grenzen.

Projektartiges Arbeiten ist super. Die Schüler erkennen Probleme und Lösungsmöglichkeiten selbst, sie entwickeln Sozialkompetenz und arbeiten zielorientiert auf ein gemeinsames Erfolgserlebnis zu. Nicht.

„Setzt euch auf den Boden und bildet einen Kreis.“

Keine Reaktion.

„Setzt euch auf den Boden und bildet einen Kreis.“

Aufgrund sozialer Verwerfungen in der Klasse wird es eine Linie.

„Ihr sollt einen Kreis bilden!!“

Klasse bildet eine Art Pokémon mit Ausbuchtungen und Zacken.

„Wen habt ihr in Mathe???? Das ist kein Kreis.“

Keine Reaktion.

„Liebe Kinder! Ich sagte, ihr sollt einen Kreis bilden. Das ist KEINE schwere Aufgabe. Wir möchten gemeinsam eine ganze Veranstaltung für andere Klassen gestalten. Das ist viel schwieriger. Schaffen wir das? Bitte strengt euch an!”

Die Klasse wollte sich für die Andacht mit dem Thema „Der verlorene Sohn” befassen. Volltreffer! Auch wenn sie generell wenig schnallen, hier haben sie was kapiert: Diese Geschichte ist wesentlich.

Sie wünschen sich , das Gleichnis spielerisch darzustellen. Nein, nicht auf modern, sondern, wie es früher war. Auch nicht gekürzt. Dass der Bruder eifersüchtig war, das muss noch rein. Das muss. Unbedingt!

Da sage nochmal einer, biblische Geschichten hätten nichts mit dem Leben von heutigen Zehnjährigen zu tun.

Es gibt also ein paar Haupt- und ein paar Nebenrollen. Stundenlang werden sie nach allen Regeln der Kunst ausgelost, denn es heißt nun mal „Der verlorene Sohn“ und nicht „Die verlorene Schulklasse“ – das heißt, nur einer kriegt die Titelrolle.

Wochenlang können Ausgeloste keinen Text.

In jeder Relistunde werden von den Viertklässlern zudem Requisiten angepriesen. Frau Life Science kennt bald sämtliche private Ausstattung der Schülerschaft aus deren Berichten, nur finden die wenigsten Artefakte den Weg ins Klassenzimmer. Muss denn SIE, Frau Life Science wieder den Spaten und das orientalische Tuch und das alles Sonntagabend zusammensuchen…?

Das einzige, was die Kinder beschaffen bzw. selbst herstellen, ist ein Warnschild mit Totenköpfen. Sie finden, dass die Schoten des Johannisbrotbaumes, die als authentisches Schweinefutter und Notmalzeit des verlorenen Sohnes herhalten müssen, und die Frau Life Science extra bestellt hat, ganz schlimm stinken.

“Klassenschrank niemals öffnen!!! Höchste Warnung!!!“

Die Klasse bereitet sich so ungefähr seit Ostern auf die Andacht vor, die Veranstaltung ist nach Pfingsten. Sie hätten allerdings Silvester anfangen sollen.

Aber dann diese Momente: „So ist Versöhnung“, singen die Kinder im Chor. Da stehen sie, ordentlich aufgereiht, Jungen und Mädchen. Werfen sich gegenseitig Blicke zu beim Singen. Lächeln vielsagend. Streiten eigentlich den ganzen Tag, aber: So ist Versöhnung. Das Lied haben sie mit der Musiklehrerin eingeübt. Die heißt Frau Schönlied. Denn so etwas gibt es ja: Leute heißen einfach so wie sie heißen müssen. Kennen Sie das? Herrlich.

„So ist Versööööööhnung!“ Alle Mütter heulen auf der Tribüne. Beziehungsweise die, die aktiv nachgefragt haben, ob man zur Andacht kommen darf. Natürlich darf man kommen. Aber extra eingeladen wird man nicht, denn Frau Life Science muss ihre Nerven schonen.

Wenn man damit aufgewachsen ist, berührt einen das Genre „Geistliched Lied“ irgendwie besonders. In diesem Fall hat der Verfasser desselben vor Jahrzehnten bereits einmal in Frau Life Sciences Kinderzimmer übernachtet, während sie selbst zu den Geschwistern auswich, hieß es. Aber das tut gar nichts zur Sache. Es sind einfach die Texte und Melodien, die einen heimisch fühlen lassen, die Wesentliches auszudrücken scheinen, wenn man sie kennt.

Und jetzt Berlin. 35 Jahre später.

How does it work? Ev-an-ge-lisch?

“Dürfen Kinder denn einen Segen sprechen? – Ich frag nur”, meint der Kollege im Hinblick auf Frau Life Sciences dargelegte Planung.

Dürfen Kinder atmen?

„Und was kommt nach dem Segen?“, fragt er später.

Nüscht. Einfach nüscht.

„Aber da muss doch…“

Da muss gar nichts. Denn es gibt Dinge, die höher sind als alle Vernunft. Fertig einfach. Tschüss. Auf Wiedersehen. Was willst du noch?

Zwei Kilo Reis aufsaugen, die das Kind mit der Extraportion Fantasie überall im Zuschauerraum verstreut hat, ohne dass es erkennbar mit der Handlung des Rollenspiels einherging, kann man immer noch, wenn die Leute weg sind. Amen.

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